Ein Erz-Engel auf Biertischniveau.

Ein Erz-Engel auf Biertischniveau.

Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Was sich der erz-konservative Europaabgeordnete Engel auf einer rezenten Pressekonferenz leistete ist unterstes Biertischniveau.

Laut einem Pressebericht äußerste sich der CSV-Exponent auf einer Pressekonferenz der christlich-sozialen Europaabgeordneten wie folgt: „Kritisch äußerste sich Engel allerdings zur Klimadebatte, wo von 30 Milliarden Euro gesprochen werde, die Europa aufbringen müsse, ohne dass aber bislang geklärt sei, wo diese Gelder überhaupt herkommen sollen und was einmal mit ihnen geschehe. Er wolle auf jeden Fall nicht, so der Sprecher der Luxemburger CSV-Abgeordneten, dass sich Robert Mugabe hiermit seinen 90. Geburtstag finanziert.“

Da haben wir es wieder, das Argument „die Afrikaner seien nur des Geldes wegen in Kopenhagen gewesen.“

Als wir noch vor nicht allzu langer Zeit Silberpapier für die „Negerkënnercher“ sammelten, waren jenen, die so dachten wie unser Engel, die Gewaltherrscher in Afrika egal. Wenn es darum geht, lukrative Geschäfte mit Rohstoffen in afrikanischen Ländern abzuschließen, hört man sie nicht, die Engels, dann sind Diktatoren und korrupte Politiker salonfähig. Dass wir unseren Wohlstand nicht zuletzt durch Sklaverei, Kolonisation und Börsenspekulationen abgesichert haben und wir somit den Menschen in Afrika seit Jahrhunderten keine Möglichkeit zur Selbstentfaltung geben, hat jene Engels nie wirklich interessiert. Die Missionierung stand immer im Vordergrund.

Es geht hier nicht um Robert Mugabe, es geht um Nelson Mandela. Es geht um die Menschen die sich in einem gerechten System eine Zukunft aufbauen wollen. Und hier stehen wir in der Pflicht, auch in der finanziellen Pflicht beim Klima.

Unserem Erz-Engel sei dringend die Lektüre der Analysen eines Thomas Pogge empfohlen, der die aktuelle Weltordnung als eine „Form von Massenmord“ bezeichnet, gerade in Bezug auf Afrika! Anscheinend kann man sich im Europaparlament auch für eine gerechtere Weltordnung einsetzen, in der soziale und das sind auch christliche Werte vordergründig sind.

Aufgrund seines Biertischniveaus bezweifeln wir aber, dass es dem Erz-Engel überhaupt darum geht.

Françoise Kuffer / Raymond Becker

Journal + Tageblatt             30.12.09

Für eine Kultur der Gewaltfreiheit!

Artikelserie im Tageblatt

Françoise Kuffer und Raymond Becker

Wir wissen es und müssen handeln!

„Die Welt hat genug um die Bedürfnisse, aber nicht die Habgier aller zu stillen. Das ist das Problem.“   Mahatma Gandhi

18. September 2009

Unser Fußabdruck ist zu groß!

„Der heutige Lebensstandard kann nur aufrecht erhalten werden, solange ihn die meisten nicht haben.“   Franz Nuscheler

24. September 2009

Es beginnt in den Köpfen!

„Einer Tradition treu sein, bedeutet, der Flamme treu sein und nicht der Asche.“   Jean Jaurès

1. Oktober 2009

Global denken – Lokal handeln!

„Es ist wichtiger etwas im Kleinen zu tun, als im Großen darüber zu reden.“   Willy Brandt 

17. Oktober 2009

Kommunale Potentiale nutzen!

„Man muss an die Zukunft glauben, an eine bessere Zukunft. Die Welt will Frieden.“   Erich Maria Remarque

29. Oktober 2009

Der Prävention gehört höchste Priorität!

„Gewalt macht den Menschen zur Sache.“   Simone Weil

11. November 2009

 

Für eine Kultur der Gewaltfreiheit (I):

Wir wissen es und müssen handeln!

„Die Welt hat genug um die Bedürfnisse, aber nicht die Habgier aller zu stillen. Das ist das Problem.“

Mahatma Gandhi

Die 80ger Jahre brachten vielerorts einen Wendepunkt in der Wahrnehmung globaler Fragen der Menschheit. Wurde der im Jahre 1972 veröffentlichte Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome zur Lage der Menschheit in den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungszentren noch äußerst kontrovers diskutiert, so brachten drei internationale Berichte an die Vereinten Nationen die entscheidende Wende. 1980 erschien der sogenannte Brandt-Report „Das Überleben sichern“. Unter Leitung von Willy Brandt schlug eine Expertengruppe den Vereinten Nationen neue Wege in der Entwicklungshilfe vor. Eine internationale Kommission für Abrüstung und Sicherheit unter Leitung von Olof Palme veröffentlichte 1982 den Bericht „Common Security“. In diesem Bericht wurde dargelegt, wie internationale Zusammenarbeit, Abrüstung und Entmilitarisierung vorangetrieben werden können. Fragen der Sicherheit wurden nicht auf militärische Mittel reduziert. Unter Vorsitz von Gro Harlem Brundtland veröffentlichte eine Arbeitsgruppe 1987 Überlegungen zum Thema „Unsere gemeinsame Zukunft“. In diesem Brundtland-Bericht wurde erstmals die nachhaltige Entwicklung als Ziel politischer Bemühungen postuliert.

Club of Rome, Brandt, Palme und Brundtland haben zweifelsohne jene Konferenzen der Vereinten Nationen ganz wesentlich beeinflusst, die in den letzten 20 Jahren zu einem verstärkten Interesse an den Zukunftsfragen der Menschheit geführt haben.

Die Agenda für den Frieden (1992), der Erdgipfel (1992), die Bedeutung der sozialen Entwicklung (1995), die Weltfrauenkonferenz (1995), die Klimaproblematik (1995), die Habitat II Tagung betreffend die menschlichen Siedlungen (1996) und besonders die Millenniumsziele für eine zukunftsfähige und nachhaltige Weltentwicklung (2000), sind Beispiele, wie kompetent und ohne Schönfärberei diese aktuellen Themen dargelegt wurden. Gleichzeitig wurden jeweils konkrete Ziele formuliert und Mittel und Wege beschrieben, wie Fortschritte in den einzelnen Bereichen erreicht werden können. Die einzelnen Themendarstellungen zeigen auch, wie eng diese untereinander vernetzt sind. Die klare Aufarbeitung und die Formulierung von notwendigen Zielen sind ein Novum in der Geschichte der Menschheit.

Billionen für die Finanzkrise.

Niemand kann mehr behaupten, er hätte nicht gewusst: Dass 20% der Menschheit 86% der Ressourcen verbraucht und größtenteils verschwendet; dass täglich 100.000 Menschen verhungern, davon alle 3 Sekunden ein Kind; dass jeder 8te Mensch auf der Welt an Hunger leidet; dass jährlich 11 Millionen Kinder vor ihrem 5. Geburtstag, an vermeidbaren und behandelbaren Krankheiten sterben; dass wir jährlich etwa 1.000 Milliarden Euro für Rüstungszwecke ausgeben; dass die Finanz- und Wirtschaftskrise laut „Die Welt“ bislang weltweit 10.000 Milliarden Euro verschlang; dass es uns jedoch nicht gelingt, während 5 Jahren jährlich jeweils 58 Milliarden Euro für die weltweite Beseitigung der schlimmsten Plagen der Menschheit vom Hunger bis zur mangelnden Bildung aufzubringen.

Der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon mahnt zurecht, wichtige Prioritäten nicht aus den Augen zu verlieren: „While recently we have heard much in this country about how problems on Wall Street are affecting innocent people on Main Street, we need to think more about those people around the world with no streets”.

Die Befürchtungen des UN-Chefdiplomaten sind schon berechtigt, dass die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise das Erreichen der Millenniumsziele bis 2015 in noch größere Bedrängnis bringt. Dabei sind diese Ziele – die Beseitigung der extremen Armut und des Hungers; die Grundschulausbildung für alle Kinder; die Förderung der Gleichheit der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frauen; die Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel; die Senkung der Müttersterblichkeit um drei Viertel; die erfolgreiche Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderen Krankheiten; die Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit und der Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung – von größter Bedeutung und verdienen absolute Priorität im Interesse der gesamten Menschheit.

Die Europäische Kommission bringt es durch ihren Kommissar Louis Michel drastischer auf den Punkt. Für den ehemaligen belgischen Außenminister wäre es völlig falsch und zynisch, wenn nun die Krise als Ausrede missbraucht würde, um Entwicklungshilfe zu streichen. Er warnt für diesen Fall vor einer Art Domino-Effekt, der den internationalen Terrorismus befeuern und die Sicherheit in der Welt akut gefährden würde. „Jetzt ist der Moment gekommen, die Welt neu zu ordnen, sonst wird es bald zu spät sein“, so Michel.

Geld allein genügt nicht.

Wir sind die erste Generation, die es schaffen könnte, eine für uns alle bessere Zukunft zu gestalten. Wollen wir das wirklich? Sind wir bereit für die nächsten Generationen Verantwortung zu übernehmen? Sind wir bereit zu teilen? Oder ist das Leben auf Kosten der Anderen nicht doch bequemer?

Jedenfalls fehlen bisher der politische und wohl auch der konkrete Wille, in der Gesellschaft etwas tiefgreifend und nachhaltig zu verändern. Es fehlt der Wille, eine andere ökonomische und soziale Grundlage zu schaffen. Wir bräuchten eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung, eine Weltwirtschaft die sich an solidarischen, ökologischen, demokratischen und friedlichen Kriterien orientiert. Das klassische Argument, es wäre für diese Umgestaltung kein Geld vorhanden ist seit der Finanzkrise obsolet. Allein 2008 wurden innerhalb kürzester Frist 10 Mal mehr Gelder für die Banken aufgebracht als in den letzten 49 Jahren weltweit für die Entwicklungspolitik ausgegeben wurden.

Geld ist in der Entwicklungspolitik von Bedeutung, aber Geld allein genügt nicht. Eine gerechtere und das bedeutet auch friedlichere Welt kann es nur geben, wenn wir bereit sind, über Almosen hinaus, auch unser eigenes Konsumverhalten und unseren Lebensstandard zu ändern und zu überdenken. Anderenfalls könnten die Aussagen von Louis Michel schneller Realität werden als gedacht.

In einem Klima von Gier und Egoismus hat dieser Solidaritätsgedanke aber wenig Aussicht auf Erfolg. Wie könnte denn konkret ein Beitrag zur Förderung dieses Solidargedankens aussehen? Einige Überlegungen in einem weiteren Beitrag.

Für eine Kultur der Gewaltfreiheit (II):

Unser Fußabdruck ist zu groß!

„Der heutige Lebensstandard kann nur aufrecht erhalten werden, solange ihn die meisten nicht haben.“

Franz Nuscheler

Mit einer Computersimulation schreckte das Massachusetts Institute of Technologie (MIT) im Jahre 1972 die Öffentlichkeit auf. Betrachte man die Entwicklungen in den Bereichen Bevölkerungszunahme, Ressourcenverbrauch und Ökologie, so müsse energisch gegen den allgemeinen Wachstumstrend gegengesteuert werden. „Die Grenzen des Wachstums“, der Bericht an den Club of Rome, wies schonungslos auf die Endlichkeit unserer Ressourcen hin. Unsere Wachstumseurophie habe auf Dauer keinen Bestand. Wirtschaftskreise, politische Entscheidungsträger und engagierte Teile der Zivilgesellschaft führten eine äußerst kontroverse Debatte über die Inhalte dieses Berichtes.

Wir wissen heute, dass das Team um Jay Forrester, Donella und Dennis Meadows mit ihren Kernaussagen vor über 30 Jahren richtig lagen. Unser Traum von der Unendlichkeit der Ressourcen und somit vom unendlichen Wachstum ist ausgeträumt. In einer zweiten Studie im Jahre 1992 kommen die Fachleute zum Schluss, dass nach der Erfindung des Ackerbaus und nach der industriellen Revolution, wir zu einer notwendigen dritten Umwälzung aufgerufen sind: Zur ökologischen Erneuerung. Der dritte Bericht „Grenzen des Wachstums – Das 30 Jahre Update“ aus dem Jahre 2004, avancierte nach seiner Veröffentlichung zu einem Standardwerk für jede Schulbibliothek und für jeden engagierten Menschen. Die aktuellen Daten des Berichts schlussfolgern, dass wir einen Kurswechsel dringend brauchen, eine Wende zur Nachhaltigkeit mit drastischen materiellen und strukturellen Veränderungen.

Alles nur Panikmache und eigentlich kein Problem? Oder beginnen immer mehr Menschen zu begreifen, dass es so nicht weitergeht, dass unsere Spaß- und Konsumgesellschaft keine Zukunft hat? Leben wir nicht doch so als hätten wir keine Verantwortung unseren Kindern gegenüber? Die Berliner Band „Culcha Candela“ bringt es provokatorisch in ihrem neuen Song „Schöne, neue Welt“ auf den Punkt: „Herzlich Willkomm‘ in unserer schönen, neuen Welt, was morgen wird ist scheiß egal – wir feiern bis alles zerfällt.“

Bad news oder Verantwortung für die Zukunft?

Das „Global Footprint Network“ hat mit seinem ökologischen Fußabdruck eine wissenschaftliche Methode entwickelt, um den Natur- und Ressourcenverbrauch zu berechnen, der notwendig ist, um den gegenwärtigen Lebensstandard aufrecht zu erhalten und die daraus entstehenden Abfallprodukte zu absorbieren.

Ein Beispiel verdeutlicht diesen Fußabdruck: Weltweit gibt es runde 11 Milliarden Hektar biologisch produktive Fläche. So kommen nach dem „Footprint“-Modell auf jeden Menschen etwa 1,7 Hektar. Weltweit beanspruchen wir jedoch heute durchschnittlich 2,2 Hektar pro Kopf. Das bedeutet konkret, wir verbrauchen weltweit 20% mehr Ressourcen als die Natur regenerieren kann. Wir, das sind nicht die Kenianer oder Inder, das ist unsere übersättigte Konsumgesellschaft, denn innerhalb der EU sind es 6 Hektar pro Kopf, in den USA gar 9,5.

Gandhi gab einem englischen Journalisten folgende Antwort auf die Frage, wie lange das 1947 gerade erst unabhängig gewordene Indien wohl brauchen würde, um sein ehemaliges „Mutterland“ Großbritannien wirtschaftlich einzuholen: „Die kleine Insel Großbritannien musste die halbe Welt erobern und ausbeuten, um zu ihrem Wohlstand zu gelangen. Wieviele Planeten bräuchte es da für Indien?“ Etwa 60 Jahre später kennen wir die Antwort auf Gandhi’s Gegenfrage. Wenn alle auf der Welt so leben würden wie wir in den Industrieländern, bräuchten wir mindestens 3 weitere Erdkugeln. Ob wir es wollen oder nicht: Wir müssen in unserer Gesellschaft den ökologischen Fußabdruck um etwa 2/3 verkleinern. Wenn wir dies nicht konsequent angehen, werden kriegerische Auseinandersetzungen um natürliche Ressourcen bald auf der Tagesordnung stehen.

Das renommierte World Watch Institute aus Washington analysierte in seinem Jahresbericht 2004 die Frage „Was ist ein gutes Leben?“. Im Kern geht es in dem Bericht darum, dass ungezügelter Konsum keineswegs glücklich macht, im Gegenteil: “Die eindimensionale Ausrichtung auf den Konsum unterminiert nicht nur die Lebensqualität derjenigen, die der Konsumgesellschaft angehören, sie wird auch die Möglichkeiten der außerhalb der Konsumentengemeinschaft Lebenden verringern, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.“ Das Institut zeigt zudem Wege auf, wie Konsum eingeschränkt und in andere Bahnen gelenkt werden kann, wie somit menschliches Wohlergehen und Nachhaltigkeit verbessert werden können.

Hans Glauber, Initiator der „Toblacher Gespräche“ entwarf die programmatische Formel „langsamer, weniger, besser, schöner.“ Kurz vor seinem Tode schrieb er folgenden Einführungstext zu der anstehenden Gesprächsrunde. „Wir stehen am Übergang von einer Epoche der Maßlosigkeit zu einer Epoche der neuer Bescheidenheit. Öl und Gas, die Treibstoffe des Industriezeitalters, werden knapp und deshalb superteuer. Es sieht so aus, als ob die glorreichen Zeiten des Wachstums hinter uns liegen. Aber auch das solare Zeitalter verträgt sich nicht mit Maßlosigkeit. Es wird erst mit einem Zivilisationswandel gelingen, der weniger Naturverbrauch, langsamere Geschwindigkeiten, ausgewählte Produkte und bescheidenere Profite für gelungen hält.“

Verantwortung für eine gute Zukunft übernehmen.

Politik und Wirtschaft sind gefordert. Aber auch der einzelne Bürger steht in der Verantwortung. Durch kritischen Konsum kann er sein Scherflein beitragen. Experten sind sich einig, dass beispielsweise folgende Änderungen im Verbraucherverhalten viel bewegen würden: Die gründliche Wärmedämmung der Wohnung, die konsequente Anwendung von erneuerbaren Energien, das Umsteigen auf ein Drei-Liter-Auto, die Nutzung des öffentlichen Transports, der Aufbau von Carsharing-Modellen, die konsequente Umstellung des Speiseplans auf regionale, biologische und fair gehandelte Lebensmittel, usw. Kritischer Konsum fängt ganz banal bei der Frage an, ob man das auch wirklich braucht oder gar will, was man da gerade „in den Einkaufskorb legt“.

Auf politischen Plan gilt es eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft zu gestalten. Ernst-Ulrich von Weizäcker plädiert seit langem dafür, dass die Preise nicht nur die ökonomische, sondern auch die ökologische Komponente beinhalten müssen. Darum gehört eine ökologische Steuerreform auf die oberste politische Agenda. Zudem muss die Politik klare ethische Regeln für die Finanzmärkte bestimmen. Diese müssen sich an den langfristigen Interessen der Menschen, statt an kurzfristigen Interessen einiger weniger Spekulanten orientieren. So ist die Einführung einer „Tobin-Tax“ anzustreben. Mit dem Modell des Nobelpreisträgers James Tobin würden spekulative Devisentransaktionen endlich besteuert. Rezente Schätzungen ergaben, dass nur 1,5 bis 5% des Transaktionsvolumens mit realwirtschaftlichen Vorgängen zu tun haben. Alles andere ist pure Spekulation!

Die Wirtschaft ist ebenfalls gefordert: Wir brauchen eine Effizienzrevolution. Wir brauchen eine Produktion, die mit weniger Materialeinsatz hochwertige Produkte herstellt. Der europäische Topmanager Claude Fussler liegt richtig mit seiner Feststellung, dass die Wirtschaft nur dann langfristig Zukunftschancen hat, wenn sie ökoeffizient, innovativ und sozial ist, denn „heute gibt es sehr viel Armut, und wenn noch zwei oder drei Milliarden Menschen dazu kommen, und wenn man sich eine friedliche Welt wünscht, dann müssen wir eine Lösung finden, dass wir unser Wachstum und unsere Lebensqualität mit viel weniger Auswirkungen auf die Umwelt organisieren.“

Letztendlich kommt es auf ein Zusammenspiel all dieser Faktoren an, auf den Willen, etwas anderes durchzusetzen, auf den Glauben, dass etwas anderes möglich ist. Unser Handeln hat Auswirkungen auf andere Teile der Welt und auf das Leben zukünftiger Generationen. Welche Auswirkungen das sind, darüber entscheiden wir hier und heute.

Eine solidarischere Weltgemeinschaft ist der einzige Garant für eine sichere Zukunft. In diesem Sinne bedarf es auch einer neuen Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit. Ansätze hierzu in einem weiteren Beitrag.


Für eine Kultur der Gewaltfreiheit (III):

Es beginnt in den Köpfen!

 

„Einer Tradition treu sein, bedeutet, der Flamme treu sein und nicht der Asche.“

Jean Jaurès

Zur Schaffung einer solidarischeren und somit sichereren Welt brauchen wir auch eine neue Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit.

Im November 1998 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Erklärung für „Eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit für die Kinder der Welt“. In dieser Erklärung wurde der Zeitraum von 2001 bis 2010 zur internationalen Dekade für eine Kultur des Friedens ausgerufen.

Im Rahmen dieser UN-Erklärung definierten Friedensnobelpreisträger in einem Appell, was denn eigentlich eine Kultur der Gewalt bedeutet: „Eine Kultur der Gewalt ist auf die Befriedigung der Bedürfnisse einer Minderheit ausgerichtet, während sie die Achtung des Lebens und der Würde einer großen Mehrheit benachteiligt. (…) In einer Kultur der Gewalt werden die Menschenrechte und die demokratischen Spielregeln missachtet, Güter und Ressourcen werden ungleich verteilt, (…) die Umwelt wird zugunsten rascher Profite zerstört. Diese Kultur der Gewalt ist auch die Wurzel der Rüstungsspirale und der kriegerischen Konflikte. Sie ist die Quelle der Gewalt in den Familien, zwischen Rassen und ethnischen Gruppen.“

Auch wenn sich diese UN-Dekade offiziell dem Ende nähert, sollte das Thema zum stärkeren Engagement für Frieden und gegen Gewalt anspornen. Die Argumente der Vereinten Nationen und der Appell der Friedensnobelpreisträger behalten weit über 2010 hinaus ihre Gültigkeit. Die Dekade für eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit will vermitteln, dass ein Wandel vom Kult des Krieges zu einer Kultur der gewaltfreien Konfliktlösung notwendig und möglich ist. Es gibt durchaus positive Beispiele in der Geschichte. Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Oscar Romero oder Aung San Suu Kyi, das tschechoslowakische Volk 1968 im „Prager Frühling“, die „Nelkenrevolution“ 1974 in Portugal, die „Rosenkranzrevolution“ 1986 auf den Philippinen oder die Geschehnisse 1989 in der Leipziger Nikolaikirche zeigen, dass Konflikte andere Lösungspotentiale bieten als pure Gewalt. Es sind Beispiele einer engagierten Praxis zum Finden einer besseren Zukunft. Diese Beispiele gilt es zu vermitteln, auf diesen Beispielen gilt es aufzubauen.

Manifest 2000 und Friedenspädagogik.

In ihrem Aktionsprogramm für eine Kultur des Friedens postulieren die Vereinten Nationen: „Die Zivilgesellschaft soll auf örtlicher, regionaler und nationaler Ebene einbezogen werden, um das Spektrum der Aktivitäten zugunsten einer Kultur des Friedens zu erweitern.“

Was können wir nun konkret in unserer Gesellschaft für das Erreichen einer Kultur der Gewaltfreiheit tun?

Die UNESCO, die Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur der UNO, veröffentlichte in ihrem „Manifest 2000“ sechs Grundsätze, wie man als Bürger in seinem tagtäglichen Umfeld eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit leben kann. Dies ist eigentlich eine spannende Herausforderung. Es gilt, Friedensbemühungen und Gewaltfreiheit nicht nur auf der politischen Metaebene zu thematisieren, sondern im täglichen Leben umzusetzen.

Das Manifest 2000 fordert moralische und ethische Werte ein, die in unserer Konsum- und Spaßgesellschaft rasant verkümmern: Die Anerkennung der Würde eines jeden Menschen ohne Unterschied und Vorurteil; der Verzicht auf jede Form von Gewalt gegen Schwächere und Wehrlose; die Bereitschaft, Zeit zu teilen mit anderen, damit Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung ein Ende finden; das Einstehen für freie Meinungsäußerung und kulturelle Vielfalt, für eine nachhaltige Entwicklung und ein Leben im Einklang mit der Natur; das Verteidigen demokratischer Werte und das Schaffen neuer Formen der Solidarität. Sich für diese Ziele konsequent und alltäglich einsetzen fordert schon persönliches Rückgrat.

Eine Schlüsselrolle kommt der Friedenspädagogik zu. Der scheidende Generaldirektor der UNESCO Koichiro Matsuura beschreibt mit folgenden Worten die Bedeutung der Erziehung für das Erreichen einer friedensfähigen Gesellschaft: “Education ist fundamental to peace-building. Education for peace, human rights and democracy is inseparable from a style of teaching that impacts to the young, and not so young, attitudes of dialogue and non-violence – in others words, the values of tolerance, openness to others and sharing.” Nicht von ungefähr fordern die Vereinten Nationen eine Neubelebung der Friedenspädagogik ein.

Für Günther Gugel und Uli Jäger vom Institut für Friedenspädagogik in Tübingen gibt es in der Friedenspädagogik unterschiedliche Herausforderungen und Problemstellungen, es gibt verschiedene gesellschaftliche Voraussetzungen und es gibt diverse politische Rahmenbedingungen. Aber Friedenspädagogik hat überall einen unverwechselbaren Charakter im Denken und Handeln: Sie spielt eine unverzichtbare Rolle beim konstruktiven Umgang mit Konflikten und fördert die Befähigung zur gewaltfreien Konfliktaustragung.

Hier stehen unsere Schulen in der Verantwortung. Themen wie z.B. die Auseinandersetzung mit Gewalt, das Befähigen zu gewaltfreiem Handeln, das Überwinden von Vorurteilen, die Vermittlung von Demokratiefähigkeit, die Berücksichtigung des Gender-Aspektes (Geschlechterrolle) und die Auseinandersetzung mit den Medien müssen im schulischen Alltag behandelt, d.h. gelebt und gelehrt werden.

Das Aggressionspotential steigt.

 

Machen wir uns auch in unseren Breitengraden nichts vor. In unserer Gesellschaft steigt die Gewalt- und Aggressionsbereitschaft. Besonders Kinder und Jugendliche werden in vielfältiger Form mit Gewalt konfrontiert. Die Spirale hin zu gewalttätigen Reaktionen ist vorgezeichnet.

Für die deutsche Bundesgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz zeigen sozialwissenschaftliche Untersuchungen, dass Gewalt und die Angst vor Gewalt für viele Kinder und Jugendliche ein wichtiges und belastendes Thema ist. Eltern und Pädagogen sind schockiert und hilflos angesichts verbaler Gewalt und Brutalität, die sie bei Kindern und Jugendlichen erleben. Kinder und Jugendliche fühlen sich vielfach von Erwachsenen allein gelassen mit ihren Ängsten und Erfahrungen und beklagen, dass Erwachsene ihre Erfahrungen ignorieren oder in Gewaltsituationen wegsehen und nicht schützend eingreifen. Die Medien berichten teilweise dramatisierend über konkrete Einzelereignisse und tragen auf ihre Weise dazu bei, dass Gewalt ein Dauerbrenner-Thema bleibt.

Es wäre deshalb mehr als angebracht, die bestehenden und neuen friedenspädagogischen Initiativen an unseren Schulen organisatorisch und finanziell zu stärken. Als inhaltliche Grundlage hierfür könnte die im Juni 2007 veröffentlichte Publikation „Éducation à la paix“ des Bildungsministeriums dienen. Zugleich gilt es, eine Offensive für eine gewaltfreiere Gesellschaft im Sinne des Manifestes 2000 der UNESCO in die Wege zu leiten.

Gandhi, Luther King, Oscar Romero oder San Suu Kyi zeigen, dass es gewaltfreie Lösungsmöglichkeiten gibt. Dieser „Tradition treu sein“, wie es der Politiker, Philosoph und Pazifist Jean Jaurès formuliert hat, ist nicht nur eine Herausforderung für den einzelnen Bürger, staatliche Instanzen oder Schulen. Es ist auch eine Aufgabe der Kommunen. Wie diese im Sinne einer gewaltfreieren Gesellschaft aktiv werden können, wird in weiteren Beiträgen dargelegt.


Für eine Kultur der Gewaltfreiheit (IV):

Global denken – Lokal handeln!

„Es ist wichtiger etwas im Kleinen zu tun, als im Großen darüber zu reden.“

Willy Brandt 

Vor dem Erdgipfel zur nachhaltigen Entwicklung im Jahre 1992, mussten sich die Kommunen ihre Teilnahme an der Konferenz noch erstreiten. Die Resultate dieser Tagung in Rio de Janeiro, Stichwort Agenda 21 und Bürgerbeteiligung, zeigten aber bereits die Bedeutung der kommunalen Körperschaften im Hinblick auf das angestrebte Ziel einer nachhaltigen Entwicklung für das 21ste Jahrhundert. Bei der Habitat-Erklärung (Entwicklung der menschlichen Siedlungen) im Jahre 1996 wurden die Kommunen seitens den Vereinten Nationen „als engste Partner der nationalen Regierungen“ bezeichnet. Für das Erreichen der Millenniumziele betont der UN-Generalsekretär immer wieder die „Relevanz der kommunalen Ebene“ und das sogenannte „Cardoso-Panel“, eine UN-Kommission eminenter Persönlichkeiten unter Leitung des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Fernando Cardoso, wies 2004 in seinem Bericht „We the Peoples: Civil Society, the United Nations and Global Governance“, auf die Wichtigkeit der kommunalen Ebene hin. Sie fungiert als unerlässliches Bindeglied zwischen den Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaft. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Vereinten Nationen die Kommunen als wichtigen Partner zum Erreichen wesentlicher sozialer und gesellschaftspolitischer Ziele ansehen.

Die ehemalige niederländische Ministerin für Internationale Entwicklung Eveline Herfkens ist heute die UN-Sonderbeauftragte für die Millenniums-Entwicklungsziele-Kampagne. Sie plädiert für konkrete kommunale Aktionen.

Eine Kommune hat eine Vorreiterfunktion. Dies bedeutet, sie muss aufklären, sensibilisieren und motivieren. Wie dies geschehen kann, sei an ein paar ganz konkreten Beispielen verdeutlicht.

Von Litfaßsäulen über das weiße Band…

 

–       Zu Beginn muss ein politischer Wille vorhanden sein um die Vernetzung bestehender Zukunftsfragen zu verdeutlichen. Eine Gemeinderats-Resolution wäre hierzu ein erster wichtiger Schritt. So erhielten „Eine-Welt“ oder entwicklungspolitische Themen Einzug in die kommunalpolitischen Diskussionen. Ein starkes Signal an die Bevölkerung.

–       Für die 8 Millenniumsziele der UN muss geworben werben. Eine tolle Initiative entstand in der italienischen Stadt Perugia. Auf 8 Toren, bzw. Litfaßsäulen wurden die 8 Millenniumsziele dargestellt, die jeweilige Ausgangslage, was die Weltgemeinschaft und der Einzelne tun können, um das jeweilige Ziel zu erreichen. Ähnliche Säulen kann man sich gut in anderen Städten oder Gemeinden vorstellen. Sie können dann auch ganz gezielt für schulische Veranstaltungszwecke eingesetzt werden.

–       Eine wichtige kommunale Aufgabe ist der Wasserversorgung. Daher liegt es auf der Hand, hier für ein vernetztes Denken zu sensibilisieren. Es gilt aufzuklären, dass etwa 1/3 der Weltbevölkerung keinen Zugang zu sauberem Wasser hat. Eines der Millenniumsziele will erreichen, dass bis 2015 die Hälfte der betroffenen Menschen endlich Zugang zu sauberem Wasser erlangen. Durch unser Konsumverhalten haben wir einen direkten Einfluss auf das Erreichen dieses Zieles. Für alles, was wir konsumieren wird Wasser verbraucht, dies passiert oft in Länder und Regionen, die schon von Trockenheit betroffen sind. Wenn wir wissen, dass 16.000L Wasser für ein Kilogramm Rindfleisch benötigt werden, gar 20.000L für ein Kilogramm Kaffee, 10L für ein DIN A4-Blatt oder 2.000L für ein Baumwoll-Shirt, so wird ersichtlich, dass ein bewussteres Konsumverhalten unsererseits vieles bewirken kann. „Global denken – Lokal handeln“ wird hier sehr konkret.

–       Am 17ten Oktober findet der jährliche „Internationale Tag für die Beseitigung der Armut“ (www.bandeaublanc.lu) statt. Das weiße Band ist zu einem weltweiten Symbol des Kampfes gegen die Armut geworden. Das weiße Band an einem Rathaus oder einer lokalen Sehenswürdigkeit ist eine einfache und effektive Möglichkeit, aufmerksam zu machen auf den Kampf gegen die Armut. Zudem kann der Gemeinderat die internationale Kampagne (www.oct17.org) mit der Unterzeichnung des Appels „Mit vereinten Kräften für eine Welt ohne Armut und Ausgrenzung“ unterstützen.

…zu UNESCO-Schulen und Partnerschaften.

 

–       In vielen Kommunen sind lokale NGO’s in der Entwicklungszusammenarbeit aktiv. Oft arbeitet jede Organisation für sich, ohne Koordination mit den anderen. Hier müssen die Kommunen durch gezielte Unterstützung für ein vernetztes Zusammenarbeiten eintreten. „Betebuerg helleft“ oder Diddeleng helleft“ sind Beispiele. Die Einbindung von aktiven Bürgern erhöht in einer Kommune sehr schnell den Multiplikationseffekt für gemeinsame Ziele.

–       Die Kommunalpolitik hat Einfluss auf die organisatorische und inhaltliche Gestaltung der Schulen, die weit über die vom Ministerium festgelegten Bildungsinhalte hinausgeht. Hier gilt es pädagogische Initiativen wahr zu nehmen. Sich zu den Prinzipien einer UNESCO-Projekt-Schule bekennen, wäre ein erster Schritt. Innerhalb solcher Projekt-Schulen stehen Themen wie Menschenrechte, Umweltschutz und Toleranz ganz oben auf der pädagogischen Agenda.

–       Neue Städtepartnerschaftsinitiativen sind eine weitere Möglichkeit, kommunalpolitisch für die Millenniumsziele einzutreten. Im Rahmen einer solchen Partnerschaft muss den Bürgern verstärkt vermittelt werden, mit welchen für uns unvorstellbaren Problemen und Herausforderungen Menschen in anderen Teilen der Welt konfrontiert sind. Es muss bei solchen Partnerschaften auch um das kulturelle „Von-Einander-Lernen“ gehen. Als Beispiel sei die Partnerschaft der Gemeinde Roeser mit den Kolla-Indios in Argentinien erwähnt.

–       Aufgrund der wachsenden lokalen Verantwortung haben sich in den letzten Jahren immer mehr Kommunen in globalen Netzwerken organisiert. Ob in dem „International Council for Local Environmental Initiatives (ICLEI)“, dem internationalen Klima-Bündnis oder „Cities Alliance“.

Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik. So gehören die Millenniumsziele auch auf die lokale politische Agenda. Die Kommunalpolitik erreicht Menschen direkter und konkreter, sie kann durch gezieltes politisches Handeln Menschen motivieren, begeistern und bewegen. Die Kommunen sind demnach unerlässliche Partner ihrer jeweiligen Regierungen.

Es wird immer deutlicher, dass unsere Zukunft sehr eng mit der globalen Entwicklung zusammenhängt. In der „Einen Welt“ betreffen unsere Entscheidungen immer auch die Menschen auf anderen Kontinenten. Und die Zukunft dieser Menschen wird wiederum unser Leben stark beeinflussen. Wir entscheiden demnach hier und heute über die Zukunft unserer Kinder.

Es gibt aber noch zusätzliche friedenspolitische Aktivitäten vor Ort. Woran erkennt man eine „Friedenskommune“? Ist uns bewusst, dass wir in Luxemburg ungeahntes Potential haben? Dazu mehr in einem weiteren Beitrag.

Für eine Kultur der Gewaltfreiheit (V):

Kommunale Potentiale nutzen!

„Man muss an die Zukunft glauben, an eine bessere Zukunft. Die Welt will Frieden.“

Erich Maria Remarque

Einfluss nehmen! Eine wichtige Maxime der 1982 gegründeten „Mayors for Peace“. Die Überlegungen, die zur Gründung der Vereinigung führten, waren prägnant. Da die Bürgermeister verantwortlich für die Sicherheit und das Leben ihrer Bürger sind, gilt es für sie auch in der Friedensthematik klare Positionen zu beziehen. Mit ihrer aktuellen Kampagne „Vision campaign 2020“ treten die Bürgermeister für die Abschaffung aller Atomwaffen ein. Im Leitbild der internationalen Vereinigung wird auf die Vernetzung zwischen atomarer Rüstung, Hunger, Armut, Flüchtlingsproblematik, Menschenrechten und Umweltzerstörung hingewiesen. Die 3.147 Bürgermeister aus 134 Ländern (Stand 1. Oktober 2009) sehen also ebenfalls den Zusammenhang der Friedensbemühungen mit den schon in dieser Serie beschriebenen Millenniumszielen.

Es ist absolut begrüßenswert, dass es in Luxemburg zur Zeit 56 Bürgermeister gibt, die Mitglieder der „Mayors for Peace“ (www.mayorsforpeace.org) sind. In einer strukturierten Koordination der einheimischen Mitgliedskommunen liegt ein ungeahntes Potential. Man stelle sich beispielweise vor, alle 56 Gemeinden würden jährlich anlässlich des Weltfriedenstages am 21. September gemeinsam ein Zeichen setzen und sich öffentlich als Städte und Kommunen des Friedens darstellen.

Von Kid’s Guernica und einem Peace-Trail.

Peter van den Dungen, Begründer und Koordinator des „International Network of Museums for Peace“ plädiert für innovative Ideen in „Friedensstädten“. Hierzu gibt es vereinzelt Beispiele, die mit etwas Phantasie so oder ähnlich umgesetzt werden könnten.

Die deutsche Stadt Osnabrück fühlt sich als Ort des Westfälischen Friedensabschlusses von 1648 dem Friedensgedanken und der Friedenssicherung verpflichtet. Besonders interessant ist, dass Osnabrück die Gegenwart und die Zukunft mit der Vergangenheit verbindet. Die Geschichte wird als Auftrag gesehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs in der Kommune sehr schnell die Erkenntnis, dass nur ein Geist der Toleranz und Humanität Rassismus und Rassenwahn in Zukunft verhindern kann. An dieser Überzeugung orientiert sich bis heute die Friedensarbeit. Osnabrück zeigt ganz konkret, wie die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte in Form der Erstellung eines „kollektiven Gedächtnisses“ einen wesentlichen Teil zur Friedenserziehung beitragen kann. Schüler des Gymnasiums in Lohbrügge beurteilten ihre Erfahrung mit einem „kollektiven Gedächtnis“ folgendermaßen: „Das Projekt ist ein Zeichen für den Generationendialog. Jung und Alt gemeinsam gegen das Vergessen und für das Leben – das Vergangene wird archiviert, weil es unsere Gegenwart und unsere Zukunft mit bestimmt. Und weil wir daraus lernen können. Nicht nur für unser Leben, sondern auch über das Leben Anderer.“

Die französische Kommune Aubagne in der Provence, legt in ihrer Friedensarbeit besonderen Wert auf die Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen. Mit einer Ausstellung der internationalen Vereinigung „Kid’s Guernica“ gelang es der Stadt Aubagne ihre Bürger für Frieden und Abrüstung zu mobilisieren. Kinder und Jugendliche der französischen Kommune haben hierfür Bilder zum Thema Frieden gemalt und ausgestellt. Die Bilder haben jeweils die Größe von Pablo Picasso’s Meisterwerk „Guernica“, das die Schrecken des 1937 erfolgten Bombenangriffs auf das baskische Städtchen während des spanischen Bürgerkrieges darstellt.

Im nordenglischen Bradford hat sich das Departement für Friedensstudien an der dortigen Universität zu einer der bekanntesten Institutionen dieser Art entwickelt. Die Hochschule gab den eigentlichen Anstoß, dass sich Bradford zur Stadt des Friedens erklärte und 1997 beschloss, diese Entscheidung in einem Buch „City of Peace: Bradford’s Story“ zu dokumentieren. Die mannigfaltigen Dimensionen des Themas Frieden, historische und aktuelle, lokale, nationale und internationale Zusammenhänge wurden exemplarisch dokumentiert. Neun Jahre später stellten Kommune und Bürger in einem handlichen Büchlein den „Bradford Peace Trail: A walk around Bradford, City of Peace“ vor. In diesem Touristenführer werden Orte und Plätze der Stadt beschrieben und dargestellt, die speziell mit Frieden und Sozialreformen zu verbinden sind. Die Verantwortlichen wollten nicht nur den Besuchern die Friedensthematik näherbringen, sie wollten auch den Bürgern Bradfords ihre Heimatstadt einmal anders vorstellen.

Vom „Anderssein“, tausend Tönen und einem Friedensetat.

Das österreichische Linz ist nicht nur Kulturhauptstadt 2009, die Stadt definiert sich mit Engagement seit 1986 als „Friedensstadt“. Solidarität mit Menschen in Konfliktregionen, Gerechtigkeit und Menschenrechte sowie ökologische Nachhaltigkeit sind Werte, welche die „Friedensstadt“ Linz konsequent fördert. Dialogbereitschaft und Toleranz untereinander sollen dabei als selbstverständliche Umgangsformen gelten. Ein wertschätzender Umgang mit Fremden und eine konstruktive Konfliktkultur sind für die Linzer Verantwortlichen prioritär.

Alle Fraktionen im Gemeinderat befürworten die Friedensinitiativen ihrer Stadt, der Bürgermeister selbst übernimmt Verantwortung; die Verwaltung wurde strukturell in die Friedensarbeit eingebunden; Kulturinitiativen und –einrichtungen werden konsequent unterstützt, Vereine und Einrichtungen wie Kirche, Schule oder sozialer Dienste werden sensibilisiert. Es entsteht eine Offenheit und Dynamik, die dem Ganzen zu Gute kommt.

Die Stadt Augsburg ist historisch geprägt durch den „Augsburger Religionsfrieden“. Im Bewusstsein dieser Tatsache versteht sich Augsburg als Friedensstadt. Ein Friedenspreis, die aktive Beteiligung der lokalen Universität an Projekten wie „Das tägliche Leben in unserer Friedensstadt“, gehören zu festen Bestandteilen der Aktivitäten. Das besondere an Augsburg ist das „Festival der 1000 Töne“. Hier gibt es jährlich anlässlich eines Musikfestivals einen Überblick über die große Vielfalt der Kulturen in Augsburg. Die Friedensstadt dokumentiert damit, dass das Miteinander der Kulturen für Alle bereichernd ist.

Das flämische Ypern in Belgien wurde in brutalen Schlachten während des ersten Weltkrieges völlig zerstört. Mit der Eröffnung des „In Flanders Fields-Museum“ hat sich Ypern und die ganze Region 1998 dazu bekannt, Friedensstadt und Friedensregion zu sein. Eine Reihe von Initiativen war die Folge, wie z.B. die Einrichtung eines kommunalen Friedensamtes oder die Stiftung eines Friedenspreises durch die Stadt. Im jährlichen kommunalen Budget erscheint ein Friedensetat. Dieser Budgetposten dient zur Finanzierung des gestifteten Preises sowie zur materiellen und finanziellen Unterstützung lokaler Initiativen. Weiter sind Projekte wie Kriegserinnerung, internationale Begegnungen mit aus Konfliktgebieten kommenden Jugendlichen oder die kommunale Verwaltungshilfe im Kosovo Schwerpunkte dieses Etats. Dass Ypern schon eine engagierte Friedensstadt ist, zeigt die Tatsache, dass das internationale Sekretariat der „Mayors for Peace 2020“-Kampagne dort seinen Sitz hat.

Mit etwas politischem Willen kann demnach vieles für eine Kultur der Gewaltfreiheit geleistet werden.

In einem letzten Beitrag werden einige konkrete Beispiele in Sachen Gewalt- und Aggressionsprävention vorgestellt. Hier spielen Schule und Jugendarbeit eine besonders wichtige Rolle.

Für eine Kultur der Gewaltfreiheit (VI und Schluss):

Der Prävention gehört höchste Priorität.

„Gewalt macht den Menschen zur Sache.“

Simone Weil

In einer Gesellschaft, wo alles schneller, besser, schöner, höher sein muss, wo der Schein mehr zählt als das Sein, sind Menschen enormen Stressfaktoren ausgesetzt. Stress ist ein wesentlicher Faktor beim Aufbau von Aggressionen. Auch und besonders Jugendliche stehen zunehmend unter Druck und reagieren nicht selten mit zunehmender Gewaltbereitschaft. Und, was besonders besorgniserregend ist: die Hemmschwelle sinkt rasant. Die Gewaltbereitschaft Jugendlicher hat qualitativ und quantitativ ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht und stellt uns als Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Selbstverständlich ist die wirksamste Prävention immer die Ursachenforschung und –bekämpfung. Im Falle der Gewaltbereitschaft Jugendlicher sind die Ursachen allerdings so vielschichtig und tief verwurzelt mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen oder Fehlentwicklungen, dass es illusorisch wäre zu meinen, man könne sie so einfach aus der Welt schaffen. Wir müssen demnach auf dieses neue Aggressionspotential reagieren.

In Luxemburg scheint sich zur Gewalt- und Aggressionsbekämpfung die in den USA entwickelte Peer-Mediation im schulischen Bereich zu etablieren. Peer-Mediation ist ein innovativer und langfristig Erfolg versprechender Ansatz der konstruktiven Konfliktbewältigung. Schülerinnen und Schüler werden zu sogenannten Peer-Mediatoren ausgebildet, die dann bei Konflikten zwischen Gleichaltrigen vermitteln. Bewiesen ist, dass Konfliktregelung durch Gleichaltrige von Konfliktpartnern gut aufgenommen wird. Dagegen ist nichts einzuwenden, außer dass es damit nicht getan ist. In einem rezenten Tageblatt-Gespräch hat der an der Uni Luxemburg tätige Prof. Dr. Georges Steffgen etwas ganz Wesentliches formuliert: „Sicherlich macht es aus sozialer Entwicklungsperspektive Sinn, Mediatorenprogramme im Rahmen eines umfassenden Schulentwicklungsprozesses mit aufzugreifen. Die begrenzte Wirkung und auch der spezifische Einsatzbereich von Streit-Schlichter-Programmen lassen es jedoch als notwendig erscheinen, insbesondere unter der Zielsetzung der Gewaltprävention, andere wissenschaftlich gestützte Vorgehensweisen stärker heranzuziehen.“

Diese Vorgehensweisen existieren und wurden anderenorts erfolgreich praktiziert. Hierzu zwei ganz konkrete Beispiele.

Null-Toleranz gegenüber Mobbing.

Dan Olweus ist Psychologe und Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Universität Bergen in Norwegen. Seit den 70ger Jahren arbeitet Olweus als einer der ersten Wissenschaftler überhaupt an der Aufarbeitung des Mobbings und der Gewaltprävention an Schulen. Er definierte den Begriff „Bullying“ oder „Mobbing“ folgendermaßen: Dass „ein oder mehrere Individuen, wiederholte Male und über einen Zeitraum negativen Handlungen von einem oder mehreren Individuen ausgesetzt sind.“ Für Olweus können diese Handlungen verbal (drohen, spotten, beschimpfen), nicht-verbal (Grimassen schneiden, böse Gesten, Rücken zuwenden) oder physisch (schlagen, schubsen, treten, kneifen, festhalten) sein. „Bullying“ erfordert ein Ungleichgewicht der Kräfte (körperlich oder psychisch) zwischen Opfer und Täter.

In Norwegen ist die Prävention von „Bullying“ seit Jahren ein politisches Anliegen. In konsequent durchgeführten Kampagnen seitens des Bildungsministeriums haben in Norwegen alle Beteiligten ein gemeinsames Ziel: Die Null-Toleranz-Vision („Zero-Tolerance-Vision“) in Bezug auf „Bullying“ bei Kindern und Jugendlichen. Die Durchführung dieses Programms ist mit etwas gutem Willen der Beteiligten (Schüler, Lehrkräfte und Eltern) recht unkompliziert. Den Kern des Programms bilden 3 Ebenen, die Schulebene, die Klassenebene und die persönliche Ebene. Auf dieser individuellen Ebene werden auch die Eltern nicht aus ihrer Pflicht entlassen. Olweus ist der Auffassung, dass Problembewusstsein und Betroffensein der Lehrkräfte und der Eltern Voraussetzungen sind für den Erfolg von Prävention und Intervention. Das Modell steht für einen autoritativen Erziehungsstil. Der Psychologe Wilfried Griebel sieht in dieser Methode den „goldenen Mittelweg“ zwischen anti-autoritärer und autoritärer Erziehung. Griebel definiert autoritative Erziehung als „warmherzig-führend, die auf Teilhabe und Mitbestimmung setzt. Einfühlsamkeit ist wichtig, aber auch Strukturen sind mitbestimmend, möglichst im Einklang mit dem Kind.“ Klare Regeln und konsequentes Handeln sind von Bedeutung, auch bei dem von Olweus entwickelten Programm. Das Modell wird mittlerweile mit Erfolg weltweit eingesetzt. Alle Evaluationen haben gezeigt, dass das Programm zu einer wesentlichen Reduktion von Bullying und Opferwerdung führte. Antisoziale Verhaltensweisen wie Vandalismus, Kämpfe, Diebstahl und Schuleschwänzen gingen signifikant zurück. Das soziale Klima an den Schulen und in den Klassen wurde verbessert, sogar wurde eine positivere Einstellung zu Schule und Leistung festgestellt. Experten sind sich einig: Das Olweus Programm dürfte die bekannteste Gewaltpräventionsmethode an Schulen sein.

Es wäre dringend angebracht, in Ergänzung zur Peer-Mediation in Luxemburg eine mehrjährige nationale Kampagne wie beispielsweise die „Zero-Tolerance-Vision“ in die Wege zu leiten. Gute erprobte Erfahrungen sollte man umsetzen.

Jugendpolitik überdenken.

Die Stadt Augsburg geht neue Wege in der Jugendpolitik. An die Stelle der klassischen, angebotsorientierten Jugendpolitik tritt eine zivilgesellschaftliche Jugendpolitik, die sich an den Leitsätzen Solidarität, Eigenverantwortung, Miteinander und Umeinander orientiert. Eine so verstandene Jugendpolitik ist weit mehr als das Bereitstellen von Infrastrukturen wie  Jugendhäusern und wird heutigen Herausforderungen weit eher gerecht. Das gesamte soziale Umfeld der Jugendlichen, der Markt mit seinen hemmungslos vorgetragenen Angeboten suggeriert permanent und eindringlich vermeintliche Wünsche junger Menschen. Konsum ist das Maß aller Dinge. Jugendliche sind sehr schnell in unterschiedliche Klassen aufgeteilt. Jene die Mithalten können und jene die chancenlos sind. Konflikte sind vorprogrammiert.

Augsburg bemüht sich hier um einen sozialen Ausgleich zwischen den Jugendmilieus. So wurde das klassische Ferienprogramm systematisch in vernetzte Initiativen umgestellt. Freiwillige wurden konsequenter rekrutiert, Vereine und Eltern mit einbezogen. „Tschamp“-Ferien in Augsburg erfreuen sich bei den einheimischen Jugendlichen großer Beliebtheit. Gezielte Theater- und Tanzworkshops, Stadtteilfeste, Friedensfest, Zeltlager oder Medien-Camp stehen im Angebot. Das Projekt „Change-in“ steht für solidarisches Zusammenleben in der Kommune. Zwei Mal im Jahr engagieren sich Jugendliche freiwillig um unter Begleitung eines Mentors an den unterschiedlichsten Orten aktiv zu werden. Der Zoo, das Theater, die Seniorenbetreuung, das Malteserhilfswerk oder die Sportvereine sind mögliche Einsatzstellen. „Logi-Fox“, eine multikulturelle Zeitung von Kindern und Jugendlichen gemacht, artikuliert Probleme, Fragestellungen, Ängste, Hoffnungen und Wünsche.

All diese ganz konkreten Initiativen der Stadt Augsburg versuchen in der Tat zu verhindern, dass jungen Menschen durch Gewalt zur Sache werden. Denn Sachen kann man einfach wegschmeißen.

Gewalt- und Aggressionsprävention ist vielschichtiger als man gemeinhin annimmt. Ein guter Ansatz ist sicherlich der in Tübingen praktizierte, permanente „Runde Tisch“. Es geht hier um die Bündelung der vor Ort existierenden Initiativen und Erfahrungen von Sozialarbeitern, Polizei, Kirchen, Vereinen, Schulen, Ärzten, Medien, engagierten Bürgern und Politik. Erfahrungswerte zeigen, dass durch einen solchen Austausch von „Experten“ sehr schnell engagierte Präventionspolitik entsteht.

Um ein konkretes Modell für luxemburgische Gemeinden und Schulen zu entwickeln, hat der Cercle de Réflexion et d’Initiative Vivi Hommel eine Kooperation mit der Klaus-Jensen-Stiftung aus Trier beschlossen, eine Stiftung die große Erfahrungswerte im Bereich der Gewaltprävention besitzt.

Mut zur Innovation!

Mehr Demokratie wagen:

Mut zur Innovation!

„Leute, redet miteinander! Überlasst Politikern und Lobbyisten nicht die Deutungshoheit, mischt euch ein, seid radikal.“ Jürgen Habermas

Der amerikanische Präsident Abraham Lincoln hat in seiner wohl berühmtesten Rede der „Gettysburg Address“ am 19. November 1863 in ganzen 272 Worten ein Demokratieverständnis geprägt, das bis zum heutigen Tage vielerorts als Definition einer demokratischen Staatsform angesehen wird. Lincoln beschwört die Freiheit und eine Demokratie, in dem das Volk, die Bürger eine entscheidende Rolle spielen.

Es wäre nun aber nicht angebracht, Lincoln in die Nähe partizipatorischer Demokratieformen zu rücken, aber sein Verständnis betreffend die Souveränität eines Volkes, kann heute noch als Impuls zum Nachdenken über die repräsentative Demokratie anregen.

Um allen Missverständnissen bei nachfolgenden Gedankengängen vorzubeugen: Es geht nicht um die Abschaffung der repräsentativen Demokratie. Es geht um Elemente von konkreter Bürgerbeteilung, von partizipativer Demokratie, die das heutige System vervollständigen und stärken. Es geht darum, ob wir es schaffen den Bürgern Lust auf Politik zu vermitteln. Es geht darum, ob wir einen aktiven, politisch bewussten, einen mündigen Bürger eigentlich wollen.

Partizipative Demokratie gelingt nur, wenn die politisch relevanten Debatten über die Zirkel der üblich „Verdächtigen“ hinausgehen. Politische Parteien sind längst nicht mehr der Ort des gesellschaftlichen Lebens der Bürger; Politiker, kommunal wie national, entscheiden oft untransparent im stillen Kämmerlein; Lobbyisten berieseln die Öffentlichkeit mit vorgefassten Meinungen; die engagierte Zivilgesellschaft steht oft ohne Netzwerk allein auf weiter Flur; der Bürger sieht sich überfordert und wendet sich ab.

Wie können wir es nun schaffen, Diskussionen die unser aller Lebensumfeld betreffen, öffentlicher, transparenter und spannender zu gestalten? Wie können Bürger sich ernstgenommen fühlen und sich bewusst in die politische Meinungsbildung einmischen?

Das Los wie im Tageblatt  vom 26. und 27. Juni erörtert, könnte hierfür Wegweiser sein.

4 Modelle mit Losentscheid oder Zufallsprinzip.

Die Idee Losentscheide im politischen Alltag wiedereinzuführen, wurde 1969 durch Peter Dienel in Deutschland und 1971 durch Ned Crosby in Amerika, fast zeitgleich in die Wege geleitet.

Peter Dienel bedrückten die Muster politischer und bürokratischer Entscheidungsprozesse. Ihm missfielen die üblichen Debatten um Probleme zu lösen. Er vermisste das Denken in langfristigen Kategorien, oft gingen die politischen Überlegungen nicht über den nächsten Wahltermin hinaus. Hinter verschlossenen Türen wurde entschieden, eine Beteiligung von Bürgern war fast unmöglich. Für ihn war die rein repräsentative Demokratie nicht mehr funktionsfähig.

Dienel schlug aus dieser Erfahrungslage das Modell einer Planungszelle vor. Eine Planungszelle hat zum Auftrag, zu einem vorgegebenen Thema, ein Bürgergutachten zu erstellen. Nach Dienel’s Modell treffen sich während 4 Tagen, 25 nach einem Losverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger. In ständig wechselnden Arbeitsgruppen erarbeiten sie gemeinsam als Planungszelle ein Gutachten, für ein als schwer zu entscheidendes politisches Dossier vor. Hilfestellung erhält die Gruppe von Prozessbegleitern und Experten. Erstere sind für den organisatorischen Ablauf zuständig; die Experten stellen den Teilnehmern ihre fachlichen Überlegungen oder die Sichtweise ihrer Interessenposition zum Thema dar. Sie stehen dann während des ganzen Prozesses für Rückfragen aus der Planungszelle zur Verfügung.

Das Verfahren Planungszelle hat in vielen Ländern zu teils überraschenden und sehr guten Ergebnissen geführt. Als Paradebeispiel wird der Bau der Autobahn „Urbina-Maltzage“ im spanischen Baskenland angeführt. Das von verschiedenen Planungszellen erstellte Bürgergutachten, wurde von der Bevölkerung akzeptiert und der Bau wurde problemlos durchgeführt.

Für Dienel war immer klar, dass die Benutzung seines Modells zu einer völlig neuen politischen Kultur führen wird.

Fast zeitgleich entwickelte Ned Crosby seine Vorstellungen einer Bürgerjury. Crosby nahm als Grundlage das Modell der Geschworenengerichte in den USA. Diese Mitglieder wurden wie im Tageblatt vom 26. und 27. Juni beschrieben, durch Los ermittelt.

1985 trafen sich Dienel und Crosby zum ersten Mal persönlich. Amüsiert stellten sie fest, wie ähnlich ihre fast zeitgleich aber völlig unabhängig voneinander, entwickelten Modelle seien.

Die wohl interessantesten Projekte von Bürgerjurys wurden zwischen 2001 und 2003 im Rahmen eines Pilotprojektes in Berlin durchgeführt. In 17 ausgewählten Stadt-Quartieren wurde einer jeweiligen Bürgerjury 500.000€ zur freien Verfügung gestellt um ganz gezielte, sehr oft soziale Projekte in ihrem Quartier durchzuführen. Sogenannte Quartiersmanager unterstützten die Bürgerjurys in der Durchführung der gesamten Projektphase. Die Zusammensetzung dieser Jurys in den einzelnen Quartieren, erfolgte zur Hälfte durch Los, die restlichen Mitglieder stammten aus organisierten oder engagierten Bürgern. Im Gegensatz zu Dienel’s Planungszelle arbeiteten die Bürgerjurys über einen längeren Zeitraum und sie hatten Entscheidungsbefugnis im Rahmen ihres Kompetenzbereiches. Aus diesen Bürgerjurys entstanden nach 2003, in 33 Berliner Quartieren interessante partizipative Initiativen die ihre Arbeitsweise an die Bürgerjurys anlehnten.

Ned Crosby’s Modell wird in weiteren Ländern wie Spanien, Amerika und besonders in Großbritannien zu den verschiedensten Themen erfolgreich praktiziert.

Eine Variante zu der Planungszelle und den Bürgerjurys ist die Konsensuskonferenz. Die Idee stammt aus den USA. Aufgrund grundlegender Probleme im Gesundheitswesen, gelangte man Mitte der siebziger Jahre zur Einsicht, Wissenschaft und Praxis miteinander ins Gespräch zu bringen. Die dänische Behörde für Technikfolgeabschätzung entwickelte 1987 das Modell zu etwas Besonderem: Sie führten diese Konferenzen nicht mit Fachleuten, sondern ausschließlich mit Laien durch. In diesen Prozessen ging und geht es der dänischen Behörde darum, die Technologieentwicklung zu demokratisieren. Die Teilnehmer an diesen Konsensuskonferenzen wurden zwar nach einem repräsentativen Querschnitt, aber im Endeffekt durch Zufall ermittelt. Allein in Dänemark fanden bis heute etwa 30 dieser Laien-Konferenzen statt.

Dass Meinungsumfragen eigentlich kein Mittel der Politikgestaltung sein dürften, sollte einleuchten. Oft ist dies aber nicht der Fall. Als Reaktion zu den Meinungsumfragen (sondages d’opinion) entwickelte James Fishkin das Deliberationsforum (sondages délibératifs). Seine Grundidee war eigentlich einfach und verständlich. In diesem Forum wird ein repräsentativer Querschnitt der Wähler nach Zufallsentscheidungen zusammengesetzt. Die Teilnehmer beginnen ihr Forum mit dem Ausfüllen eines Fragebogens zu dem zu behandelnden Thema. Hier legen sie ihre Meinung wie bei einer Meinungsumfrage ohne Diskussionsmöglichkeiten fest. Nun beginnt aber erst der entscheidende Punkt. Die Gruppe wird nun in das zu deliberierende Thema durch ausgewogene Stellungnahmen seitens verschiedener Experten eingeführt. Dieser Einstieg erfolgt völlig ausgewogen. In einzelnen, immer wieder wechselnden Kleingruppen, erhalten nun die Teilnehmer die Möglichkeit sich über das Thema auszutauschen und weiter Experten zu befragen. Zum Abschluss eines solchen Deliberationsforums erhalten die Teilnehmer denselben Fragebogen wie am Anfang des Prozesses. Die Abweichungen zu der ersten Befragung sind nachweisbar sehr groß. Das sich gemeinsame Austauschen zeigt immer Wirkung. Das Deliberationsforum hat den Vorteil, dass die erzielten Resultate wesentlich näher an der Meinung einer Gesellschaft sind, als die klassischen Meinungsumfragen. Für Fishkin ist sein Modell der Versuch einem partizipativen Demokratieverständnis sehr nahe zu kommen. Bürger einer Kommune wären gut informiert und könnten sich aktiv am politischen Leben beteiligen.

Den Versuch wagen.

Die kommunale und regionale Ebene ist prädestiniert, neue Formen einer aktiven Bürgerbeteiligung in die Wege zu leiten. Als regionale Ebene könnten beispielsweise die Leader+ Regionen in Betracht gezogen werden.

Was könnten nun diese Modelle und der im Tageblatt vom 15. und 16. Juli schon vorgestelltem Bürgerhaushalt für eine Kommune und eine Region bedeuten?

Vorneweg, falls eine Kommune oder eine Region sich in das spannende Abenteuer „partizipative Demokratie“ wagt, wäre eine wissenschaftliche Begleitung mehr als angebracht. Der Abschlussbericht würde spektakuläre Resultate vorweisen.

Das ganze müsste mit einer Bestandsaufnahme beginnen. Wie verhält sich der Bürgermeister zu seinen Schöffen, wie der Schöffenrat zum Gemeinderat, wie der Gemeinderat zu den Gemeindekommissionen? Eigentlich weiß jeder, dass mit wenigen Ausnahmen hier verheerende Demokratiedefizite bestehen. Wie bilden sich politische Gruppierungen ihre Meinung, gibt es überhaupt einen strukturierten Diskussionsprozess innerhalb einer solchen Gruppe? Wie ernst werden die seitens der Bürger anlässlich dieser oder jener öffentlichen Versammlung vorgebrachten Argumente behandelt? Oder werden diese Versammlungen nur wegen der politischen Gewissensberuhigung durchgeführt? Hier gibt es schon von Kommune zu Kommune sichtbare Unterschiede.

Aber der Einstieg in die partizipative Demokratie würde dies alles sprengen.

Eine Wahlurne alle 6 Jahre reicht nicht, um Bürger stärker für die Kommunalpolitik zu interessieren. Die fast ausschließlich nach Parteienproporz oder nach dankendem Gutdünken besetzten Gemeindekommissionen, werden der Aufgabe nach partizipativer Demokratie nicht gerecht. Diverse kommunale Informationsversammlungen sind auch nicht das geeignete Mittel.

Die politische Arbeit eines Gemeinderates kann nicht nur mit ein paar Kreuzchen bei anstehenden Wahlterminen gewertet werden. Um dies konsequenter zu bewerkstelligen wäre eine Bürgerjury  ein geeignetes Mittel. Aufgrund der Listen des Einwohnermeldeamtes würde jährlich durch Losentscheid eine repräsentative Bürgerjury bestimmt. Diese hätte die Aufgabe die jeweilige Jahresarbeit des Gemeinderates zu bewerten. Als Grundlage würden die sogenannte Schöffenratserklärung und der jährlich verabschiedete Finanzhaushalt dienen. Die Bewertung würde in einem schriftlichen Bericht veröffentlicht. Dies hätte eine Reihe positiver Gegebenheiten. Durch den jährlichen Wechsel der Bürgerjury würde eine hohe Zahl von Bürgern konkret in die Gemeindepolitik eingebunden. Der Gemeinderat hätte durch einen jährlichen Bürgerbericht eine gute Analyse ihrer Arbeit. Mehrheit und Opposition im Gemeinderat könnten hiervon profitieren.

Was wäre spannender als selbst als Bürger an der eigenen Zukunftsgestaltung mitwirken zu können. Ein Bürgerhaushalt  wäre hierfür ein geeignetes Mittel. Bürger würden über die Vergabe öffentlicher Mittel zur Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur entscheiden. Eine Kommune stellt jährlich eine feste Summe zur Verbesserung der Infrastruktur bereit. Die Kommune gibt ebenfalls jährlich einen gewünschten Rahmen, beispielsweise Grünflächen und Spielplätze, vor. Es erfolgt ein Aufruf an die lokale Bevölkerung sich ab 16 Jahren beim jährlichen Bürgerhaushalt zu beteiligen. 15 bis 24 Teilnehmer wären wünschenswert. Es sollte versucht werden die Gruppe repräsentativ für die Gemeindebevölkerung zu gestalten. Bei mehr Bewerbern entscheidet das Los über die definitive Zusammensetzung. Der entstehende Effekt wäre wie bei der Bürgerjury ähnlich.

Die Gemeinde Echternach tätigte vor Monaten eine repräsentative Umfrage um zu erfahren, was denn nun die Bürger für eine Meinung über eine eventuelle Schließung des Marktplatzes für den Autoverkehr während den Sommermonaten hätten. Aufgrund dieser klassischen Meinungsumfrage, wurde dann eine vermeintliche Meinung extrapoliert. Es stellt sich die berechtigte Frage ob ein Deliberationsforum nicht die geeignetere Form zur Meinungsfindung gewesen wäre. Eigentlich wäre sie es heute noch. Die jährlichen Entscheidungen des Gemeinderates zu diesem Thema sind jedenfalls alles andere denn konsequent.

Ein Deliberationsforum wäre bei kontroversen Diskussionen hinsichtlich eines geplanten Projektes eine gute Hilfestellung für einen Gemeinderat.

Bürger für das Einmischen in kommunale Angelegenheiten zu begeistern, bedarf gezielter und konsequenter Schritte, sie nun auch noch für regionale Fragestellungen zu motivieren, bleibt eine weitere Herausforderung.

Innerhalb der Grenzen einer Kommune können nicht alle Probleme optimal gelöst werden. Den Bürgern einer Region die Bedeutung einer Zusammenarbeit zu vermitteln, um somit eine gezieltere Aufwertung des täglichen Lebens zu erreichen, wäre ein Versuch über das Modell der Planungszellen wert. Ein passendes Thema wäre überall die Mobilität. Wie kann man in einer Region eine bessere, umweltschonendere Mobilität erreichen? Das aus einer Planungszelle entstehende Bürgergutachten würde ganz sicher innovative und interessante Vorschläge in die Debatte bringen.

Diese „Träumerei“ von einzelnen Ansätzen einer kommunalen partizipativen Demokratie, wäre es so oder so ähnlich Wert, in einem Versuch umgesetzt zu werden. Als ehemaliger Kommunalpolitiker ist Unterzeichnender aus Erfahrung überzeugt, dass Bürger zu einem Engagement zu bewegen sind. Sie wollen nur Ernst genommen werden und sich in klaren, transparenten Strukturen einbringen.

Also, etwas Mut zur Innovation. Lasst die Bürger sich außerhalb der Wahlkabinen nach Habermas „einmischen“. Die gute Entwicklung einer Kommune und einer Region wären das Resultat. Bewusste und engagierte Bürger würden es sicher in den Wahlkabinen würdigen.

Raymond Becker

Präsident der Intra Muros asbl

Echternach

Tageblatt      8/9. 7.2009

Kann das Los ein Wegweiser sein?

Mehr Demokratie wagen:

Kann das Los ein Wegweiser sein?

„Wir müssen unseren Teil der Verantwortung, für das was geschieht und das was unterbleibt, aus der öffentlichen Hand in die eigenen Hände zurücknehmen“. – Erich Kästner

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Warnfried Dettling analysiert, dass es den Menschen besser geht, wenn sie das Gefühl haben in einer Gesellschaft zu leben, in der es gerecht zugeht, die gut organisiert ist und die etwas von ihnen erwartet. Menschen, so Dettling, sind insgesamt aktiver, flexibler und auch risikobereiter, wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen und sie sich darauf verlassen können.

Es geht Dettling um eine aktive Bürgergesellschaft die sich einer starken Demokratie verpflichtet fühlt. Eine aktive Bürgergesellschaft lebt aber eindeutig von der Unterstützung und der Akzeptanz der Politik. Hier muss der Wille bestehen die aktuelle Zuschauerdemokratie in eine Bürgergesellschaft zu wandeln. Dies geht aber nur über eine Erneuerung unserer Demokratie. Es geht darum, die heutige repräsentative Demokratie durch neue Formen einer partizipatorischen Teilnahme der Bürger zu ergänzen und zu stärken.

Im Jahre 1992 glaubte man den berühmten Stein des Weisen gefunden zu haben. Die UNO verabschiedete auf ihrem Gipfel in Rio de Janeiro die sogenannte Agenda 21. Die Kommunen wurden weltweit aufgefordert unter Beteiligung der Bürger, vor Ort eine sogenannte Lokale Agenda 21 zu erarbeiten. Die Kommunen sollten für das 21. Jahrhundert eine lokale nachhaltige Entwicklung sichern.

Es gab und gibt tausende solcher Prozesse weltweit. Mal gestalten sich diese Agendas mit etwas mehr, mal mit etwas weniger Erfolg. In Luxemburg haben sie nie einen richtigen Durchbruch geschafft. Andere Formen der Bürgerbeteiligung wurden und werden hierzulande praktiziert. Am ehesten kommt die Erarbeitung eines Gemeindeentwicklungsplanes (Plan de développement communal) einer Lokalen Agenda 21 am Nächsten. Sind diese Prozesse Mittel zur Erneuerung der kommunalen Demokratie?

Das Wiener Zentrum für Soziale Innovation (ZSI), eine wissenschaftliche Einrichtung zur Förderung einer offenen und solidarischen Gesellschaft, analysierte die Lokale Agenda 21 Prozesse in Österreich. Die Forscher gingen der Frage nach, ob diese Agenden eine neue Form einer partizipativer Demokratie wären. Ihre Schlussfolgerungen waren ernüchternd: „Die Lokale Agenda 21 als politisches Konzept, (…) ist bislang kein unmittelbarer Auslöser für politische Innovation auf kommunaler Ebene. Sie dient vielfach als Überbau für Wege, die bereits beschritten werden, bietet fast jedem kommunalen Projekt breiten inhaltlichen Rückhalt und ist eine Klammer für kommunale politische Kulturen. (…) Keineswegs neu sind Interpretationen von Zivilgesellschaft und Bürgertugend, die nur in historisch gebundenen, wohlfahrtsstaatlich orientierten, repräsentativ-demokratischen Kontexten als neu erscheinen.“

Wenn man eine partizipative Demokratie will, die die Strukturen der repräsentativen Demokratie stärkt und Bürger in eine neue Rolle versetzt, sind Prozesse wie Gemeindeentwicklungsplan oder Lokale Agenda nicht optimal. Ähnlich verhält es sich bei Initiativen die als „démocratie de proximité“ oder Bürgerkommune bezeichnet werden. Bürgerversammlungen, Quartiersinitiativen greifen für eine partizipative Demokratie zu kurz.

Eine Präsidentschaftskandidatin zeigte Profil.

Ein Ansatzpunkt wäre die Durchführung eines Bürgerhaushaltes, wie im Tageblatt vom 15. und 16. Juni vorgestellt. Hier sind die Ansatzpunkte für eine partizipative Demokratie schon konkreter. In diesem Zusammenhang hat Ségolène Royal mit ihren Überlegungen der Bürgerjurys (Jurys populaires), im Wahlkampf für das französische Präsidentschaftsmandat, eine spannende Debatte ausgelöst. Aufgabe dieser „Jurys populaires“ wäre es, die politische Arbeit der gewählten repräsentativen Politiker in regelmässigen Intervallen zu überprüfen und zu bewerten. Royal tätigte noch weitere Vorschläge, die alle eine klare Zielrichtung aufwiesen: Die absolute Macht der repräsentativen Demokratie sollte gegenüber dem Bürger ein wenig eingeschränkt werden. Im Kern ging es um eine Erneuerung unserer Demokratie.

Bis auf wenige Ausnahmen, lehnte die politische Klasse Frankreichs die Vorschläge strikt ab. Die Kritiker an der partizipativen Demokratie lehnten ihre Vorgehensweise an die seitens 1992 beschriebenen „Rhetorik der Reaktion“ an. Der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschmann analysierte in seiner Veröffentlichung „Denken gegen die Zukunft“, dass alle Forderungen nach mehr Partizipation und Rechten, wie die zivilen Rechte im 18Jh., die politischen im 19Jh. und die sozialen im 20Jh. immer virulente Gegenreaktionen hervorriefen. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob gestandene Politiker, nicht nur in Frankreich, überhaupt eine partizipative Demokratie wollen.

Royal hatte bei ihrem Vorschlag der Bürgerjurys noch einen ganz entscheidenden Punkt hinzugefügt. Nachzulesen in der Tageszeitung Le Monde vom 18. November 2006: „ (…) C’est pourqoui je pense qu’il faudra clarifier la façon dont les élus pourront rendre compte, à intervalles réguliers, à des jurys citoyens tirés au sort.(…)“.

Bürgerjurys durch das Los bestimmt, auf den ersten Blick unvorstellbar, dass so etwas funktionieren könnte. Kann man in der heutigen Politik überhaupt das Los zur Hilfe nehmen?

So unüblich sind Losverfahren in der Geschichte nicht. Es gab sie in der athenischen Demokratie, es gab die „sortitio“, also das Losen in der römischen Republik, die Stadtrepubliken Florenz und Venedig hatten ausgefeilte Losverfahren um zu Entscheidungen zu gelangen. Mit der amerikanischen und französischen Revolution verschwand langsam die Tradition des Losens zur Entscheidungsfindung. Diese Revolutionen führten das Prinzip der repräsentativen Demokratie ein. Die aktive Beteiligung und das Einmischen der einfachen „citoyens“ waren hingegen weniger gefragt.

In den Demokratisierungsprozessen des 18.Jh. und 19 Jh. ging es um allgemeines Wahlrecht, nicht mehr um das Auslosen von Ämtern und Positionen.

Die überschätzten Meinungsumfragen.

Dass Bürger trotzallem nach dem Zufälligkeitsprinzip ausgesucht werden um gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu erforschen und so zu belegen, gibt es häufiger als so manchen bewusst ist. 1824 wurde die erste politische Meinungsumfrage von einer lokalen Zeitung im amerikanischen Harrisburg (Pennsylvania) durchgeführt, der eigentliche Triumphzug dieser Umfragen begann aber erst 1936.

Seitens der Zeitschrift „Literary Digest“ wurde eine sogenannte „ballot poll“ veranstaltet. Das Prinzip einer solchen „Strohumfrage“ war seit über 100 Jahren gleich. Möglichst viele Fragebögen wurden wahllos in Umlauf gebracht um eine vermeintliche Voraussage zu tätigen. 1936 ging es um die Vorhersage wer den nun der zukünftige amerikanische Präsident würde. Trotz annähernd 20 Millionen Postkarten-Stimmzettel, die vom „Literary Digest“ auswertet wurden, lag die Voraussage für den Wahlausgang verheerend falsch. Im Gegenzug veranstaltete das Gallup-Institut mit etwa 4000 Stichproben-Interviews, eine eigene Prognose. Mit einer Fehlerrate von 1% tippte Gallup auf den richtigen, nämlich Franklin D. Roosevelt. Aufgrund einer Umfrage bei einem repräsentativen Querschnitt der Wähler, konnte das Meinungsforschungsinstitut diese Prognose abgeben. Dass dieser repräsentative Querschnitt in seiner definitiven Zusammensetzung auch durch eine Art Zufallsprinzip zustande kam, dürfte jedem einleuchten.

Heute gibt es Umfragen zu allen möglichen und unmöglichen Themen. Politische Parteien richten ihre Strategie nach Umfragen aus, kommunale Vertreter lassen sich oft durch Umfragen in ihrer praktischen Politik beraten. Meinungsumfragen sind zu einem wichtigen Bestandteil unserer Politik geworden. Aber sind sie ein Mittel partizipativer Demokratie?

Hubertus Buchstein, Professor für politische Theorie und Ideengeschichte, ist überzeugt, dass erst das Jahr 1968 der Beginn einer Reformperspektive für unsere Demokratie darstellt. In jenem Jahr wurden die Juroren für die Geschworenengerichte in den USA nicht mehr über Auswahl, sondern durch ein ganz bestimmtes Lossystem ermittelt. Die Juroren bildeten durch dieses Auswahlsystem „a fair cross section of the community“.

Die Beteiligten an Umfragen und die Juroren der Geschworenengerichte werden nach einem wissenschaftlich korrekten Querschnitt, letztendlich aber durch Zufall oder Los ermittelt. Warum aber sieht Buchstein denn die Prozedere um die Gerichtsjuroren als Reformperpektive für unsere Demokratie an? Der Professor an der Universität Greifswald sieht in den Meinungsumfragen einen wesentlichen Schwachpunkt. Bei Umfragen werden Bürger mit Antwortoptionen konfrontiert und das aus ihren Reaktionen gebildete Ergebnis, wird als Ausdruck des Bürgerwillens präsentiert. Derartige Umfragebefunde sind keine echten politischen Willensäusserungen, sondern eine ganz momentane Stimmungssituation, die ohne langes Nachdenken zustande gekommen ist. Für politische Entscheidungen dürften solche Umfragen eigentlich keine Bedeutung haben.

Die Auswahlverfahren der amerikanischen Geschworenenjuroren und besonders die grosse Qualität der dort getätigten Deliberationen, also der Diskussionen und Beratungen sowie das Austauschen von Meinungen machten dieses Modell so interessant und zum Vorläufer verschiedener Projekte partizipativer Demokratie.

Pierre Mendès France schlug 1962 in seiner Veröffentlichung « La République moderne » die Einführung einer partizipativen Demokratie vor: « La démocratie ne consiste pas à mettre épisodiquement un bulletin dans une case, à déléguer les pouvoirs à un ou plusieurs élus, puis à se désintéresser, s’abstenir, se taire pendant cinq ans. Elle est action continuelle du citoyen et requiert à ce titre sa présence vigilante. »

Kann dies in einer Kommune funktionieren? Welche Modelle sind denk- und machbar? Eine kommunalpolitische „Träumerei“ in einem nächsten Beitrag.

Raymond Becker

Präsident der Intra Muros asbl

Echternach

Tageblatt 26/27.6. 2009

Für einen Bürgerhaushalt.

Mehr Demokratie wagen:

Für einen Bürgerhaushalt!

„Wir wollen mehr Demokratie wagen!“. Willy Brandt anlässlich seiner Regierungserklärung 1969.

In Zeiten der Globalisierung wo einfach alles weltweit ähnlicher und austauschbarer wird, steigt bei Menschen das Bedürfnis sich an etwas ganz konkretem zu orientieren und mit etwas Handfestes zu identifizieren. Die Regionen und Kommunen spielen bei dieser Orientierungssuche eine ganz entscheidende Rolle. Wie gelingt es Bürger zusammenzuführen um sich in ihrer Region, in ihrer Gemeinde einfach wohl zu fühlen? Dies kann durch eine stärkere Einbindung an der konkreten Gestaltung ihres Lebensumfeldes erreicht werden. So bleibt die Vision von Willy Brandt weiterhin aktuell.

Seit dem Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro, gibt es einen Paradigmenwechsel in der kommunalen Bürgerbeteiligung. In den 70ger und 80ger Jahren waren die Bürgerinitiativen eher Protestbewegungen. In den 90ger Jahren mit dem Hintergrund der Entscheidungen von Rio, Stichwort „Lokale Agenda 21“, versuchen viele Kommunen verstärkt, die Bürger für eine Mitarbeit zu gewinnen.

Im Rahmen des ersten Weltsozialforums im Jahre 2001, offenbarte sich der Tagungsort, die brasilianische Stadt Porto Alegre, in vielerlei Hinsichten als Lichtblick. Eine Idee gelangte in die breite Öffentlichkeit, die sofort eine große Faszination ausübte: Die Bürger von Porto Alegre entscheiden über ihren kommunalen Haushalt. Sie entscheiden über wichtige Investitionen ihrer Stadt. Seit 1989 wird ein „Orçamento Participativo“ ein Bürgerhaushalt praktiziert. Die drei Prinzipien Basisdemokratie, soziale Gerechtigkeit und Kontrolle durch die Bürger, sind grundlegende Elemente.

Porto Alegre hat sich durch diese politische Initiative grundlegend verändert. Die öffentliche Infrastruktur (Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Müllentsorgung, Trinkwasserversorgung und Kanalisation) hat sich wesentlich verbessert. Hinzu kam, dass die Zivilgesellschaft gestärkt wurde. So ist es gelungen das besonders in Brasilien vertraute System der Korruption und der Vetternwirtschaft offen zulegen und gezielt zu durchbrechen.

Mit ihrem Bürgerhaushalt kann Porto Alegre aber nicht alles erledigen. Es bleiben Favelas und Armut, die finanziellen Mittel fehlen um Wohnungsbau, Arbeit und Einkommen zu sichern. Die Abhängigkeit von der Provinz- und Landesregierung ist weiterhin enorm.

Porto Alegre zeigt aber ganz konkret, wie Bürgerbeteiligung funktionieren kann. Die Stadt ist zu einem Symbol für eine neue Demokratie geworden. Interessant in diesem Zusammenhang, dass sich sowohl die Globalisierungskritiker, wie auch die Weltbank gleichermaßen auf das Projekt berufen. Die Stadt gilt heute nach den Kriterien der Vereinten Nationen als eine der lebenswertesten Städte der südlichen Hemisphäre.

Es dürfte kaum überraschen, dass diese Initiative weltweit Nachahmer fand. Auch in Europa findet der Bürgerhaushalt zunehmend Anhänger, in großen wie in kleinen Kommunen. Spanien (hier sind schon über 5% der Gesamtbevölkerung in Bürgerhaushalte eingebunden), Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Portugal und Polen gehören zu den Vorreitern. Die politisch Verantwortlichen in den jeweiligen Kommunen sind sich bewusst, dass ein Bürgerhaushalt zu einem der erfolgreichsten Partizipationsinstrumente der letzten Jahrzehnte gehört.

Sechs interessante Varianten…

Nun sind die angewandten Modelle in Europa nicht unbedingt alle deckungsgleich mit den Vorgaben aus Porto Alegre.

Eine europaweite Vergleichsstudie (Les budgets participatifs en Europe – Sintomer, Herzberg, Röcke – Éditions La Découverte) beschreibt 6 verschiedene Modelle interessanter Bürgerhaushalte.

In der spanischen Stadt Cordoba und in der italienischen Kommune Grottammare werden seit Jahren Bürgerhaushalte nach dem brasilianischen Vorbild angewandt. Es geht hier vor allem um konkrete Investitionen, wie allgemeine Infrastrukturen und sehr oft um soziale Projekte. Zwar treffen die Gemeinderäte weiterhin die politischen Entscheidungen über den Haushalt, doch das Mitspracherecht der Bürger ist sehr hoch. Die Stadträte haben sich klare Verbindlichkeiten zur Umsetzung der Vorschläge der Bürger auferlegt.

Französische Kommunen, wie Saint-Denis oder Bobigny, praktizieren eine bürgernahe Partizipation als Form des Bürgerhaushaltes. Hier stehen eher Vorschläge für eine konkrete Verbesserung für einen Stadtteil oder einem kommunalen Quartier im Fokus. Ziel ist auch den Kontakt zwischen Politik, Verwaltung und Bürgern zu verbessern. Im Unterschied zu Cordoba und Grottammare sind die Vorschläge der Bürger nur Richtlinien für die Politik.

Deutsche Kommunen, wie Emsdetten oder Vlotho, tendieren eher zu einer Konsultation über die öffentlichen Finanzen. Hier wird Wert auf die Transparenz der jeweiligen finanziellen Situation gelegt. Wie steht es mit den Einnahmen und Ausgaben in klassischen Dienstleistungsbereichen wie Wasser, Müll oder wie kann ein Haushaltsdefizit ausgeglichen werden.

Diese Form eines Bürgerhaushaltes hat sein Vorbild in der Stadt Christchurch. In der Fachliteratur über kommunale Verwaltungen gilt die neuseeländische Stadt als „best running city oft the world“. Christchurch begann übrigens zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie Porto Alegre mit seinem Bürgerhaushalt.

Ein Bürgerhaushalt der sich vorrangig an Vereine, Verbände und Initiativen richtet, gilt als eine Partizipation organisierter Interessen. Hier stehen Diskussionen im Vordergrund welche politischen Vorgaben den Fragen der Mobilität, der Umwelt, den sozialen Fragen oder der ökonomischen Entwicklung zu geben sind. Die Beteiligung hat vorwiegend konsultativen Charakter. Mit Erfolg praktiziert die spanische Stadt Albacete diese Form eines Bürgerhaushaltes.

Das Modell eines privaten/öffentlichen Verhandlungstischs wird im polnischen Plock angewandt. Hierbei wird ein Fonds seitens der Kommune, privaten Unternehmer und europäischen respektive internationalen Programmen gespeist. Ganz grob kann man die Vorgehensweise dieses Bürgerhaushaltes mit der Arbeitsweise bei Projekten in der Kooperationspolitik vergleichen. Nach klar definierten Regeln stellen lokale Vereinigungen Anträge für gezielte Projekte.

Laut der aktuellen Fachliteratur hat der folgende der angewandten Modelle interessante Perspektiven für europäische Bürgerhaushalte.

Hier sei vorerst ein Hinweis zu den BID’s (Buisness Improvement District) erlaubt. Im Tageblatt vom 11. und 13. Februar 2009 wurde die Form dieses „Private Public-Partnership (PPP)“ ausführlich dargelegt.

In der britischen Stadt Bradford besteht ein Bürgerhaushalt in Form eines „Community Group Funding“ (Fonds für Gemeinwesen). Diese Variante ähnelt der Angehensweise eines BID-Projektes. Interessant hier ist, dass diese Modelle relativ unabhängig vom kommunalen Haushalt sind. Das zur Verfügung stehende Geld für Projekte im Sozial-, Umwelt- oder Kulturbereich kommen nicht oder nur zu einem geringen Teil aus kommunalen Haushaltsmitteln. Die Fonds werden vorrangig aus nationalen und europäischen Programmen gespeist. Die beteiligten Gruppen wie Vereine und Initiativen haben hier eine weitgehende Entscheidungsfreiheit.

Es gibt wie aufgezeigt eine Reihe möglicher Formen eines Bürgerhaushaltes. Letztlich muss eine Kommune entscheiden für welchen Weg oder für welchen Mix an Möglichkeiten sie sich entscheidet.

… und fünf klare Vorgaben.

Um nun nicht jede informative Bürgerversammlung zu einem Bürgerhaushalt hochzustilisieren, gibt es in der Fachliteratur allgemein verbindliche Mindestkriterien (Sintomer, Herzberg, Röcke 2005). Diese  Kriterien legen fest, ab wann überhaupt von einem Bürgerhaushalt gesprochen werden kann:

  1. Die finanzielle Dimension muss diskutiert werden. In einem Bürgerhaushalt geht es um begrenzte Ressourcen.
  2. Die Beteiligung findet auf Ebene der Gesamtkommune statt.
  3. Es handelt sich um ein auf Dauer angelegtes und wiederholtes Verfahren. Eine einmalige Veranstaltung ist kein Bürgerhaushalt.
  4. Der Prozess beruht auf einem eigenständigen öffentlichen Diskussionsprozess. Die Miteinbeziehung von Bürgern in bestehende Strukturen der repräsentativen Demokratie, wie kommunale Kommissionen, stellt keinen Bürgerhaushalt dar.
  5. Es muss eine Rechenschaft in Bezug darauf ablegt werden, inwieweit die im Verfahren geäußerten Vorschläge der Beteiligten aufgegriffen und umgesetzt werden.

Im April 2007 haben die Vereinten Nationen eine Resolution betreffend „Leitlinien zur Dezentralisierung und Stärkung der lokalen Demokratie“ verabschiedet. Das Gremium bekräftigt ausdrücklich, dass die Kommunen partnerschaftlich mit den Akteuren der sogenannten Zivilgesellschaft kooperieren und bürgerschaftliches Engagement in die Entscheidungsfindung einbinden sollten. Gefordert werden auch Bemühungen um neue Formen der Teilnahme, wie z.B. Mitwirkung auf elektronischem Wege (e-Demokratie), in die Wege zu leiten.

Die Stadt Trier geht konsequent in diese Richtung. Vor wenigen Wochen beschloss der Trierer Stadtrat ein Verfahren und feste Regeln zur Einführung eines Bürgerhaushaltes. Trier ist somit die erste Kommune in Rheinland-Pfalz die ihren Bürgern diese Form der Partizipation anbietet. Es werden hierzu vor allem neue Beteiligungsmöglichkeiten des Internet berücksichtigt. Ab sofort können die Trierer Bürger ihr „e-Wörtchen“ mitreden. Der Stadtrat entscheidet im Dezember welche Vorschläge im Haushalt 2010 umgesetzt werden. Wichtig ist, dass öffentlich dargelegt werden muss, was aus den Vorschlägen der Bürger geworden ist.

Die kommunale Ebene ist die Stelle um die Vision Willy Brandts in eine realistische Utopie zu wandeln. Ein Bürgerhaushalt wäre eine Möglichkeit. In einem weiteren Artikel werden im Sinne von „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, Modelle wie „Citizens’ Jury“, Deliberationsforum, Konsensuskonferenz oder Bürgerbeteiligungsverfahren „Planungszelle“ erläutert.

Raymond Becker

Präsident der Intra Muros asbl

Echternach

Tageblatt 15/16. 6. 2009