Kann das Los ein Wegweiser sein?

Mehr Demokratie wagen:

Kann das Los ein Wegweiser sein?

„Wir müssen unseren Teil der Verantwortung, für das was geschieht und das was unterbleibt, aus der öffentlichen Hand in die eigenen Hände zurücknehmen“. – Erich Kästner

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Warnfried Dettling analysiert, dass es den Menschen besser geht, wenn sie das Gefühl haben in einer Gesellschaft zu leben, in der es gerecht zugeht, die gut organisiert ist und die etwas von ihnen erwartet. Menschen, so Dettling, sind insgesamt aktiver, flexibler und auch risikobereiter, wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen und sie sich darauf verlassen können.

Es geht Dettling um eine aktive Bürgergesellschaft die sich einer starken Demokratie verpflichtet fühlt. Eine aktive Bürgergesellschaft lebt aber eindeutig von der Unterstützung und der Akzeptanz der Politik. Hier muss der Wille bestehen die aktuelle Zuschauerdemokratie in eine Bürgergesellschaft zu wandeln. Dies geht aber nur über eine Erneuerung unserer Demokratie. Es geht darum, die heutige repräsentative Demokratie durch neue Formen einer partizipatorischen Teilnahme der Bürger zu ergänzen und zu stärken.

Im Jahre 1992 glaubte man den berühmten Stein des Weisen gefunden zu haben. Die UNO verabschiedete auf ihrem Gipfel in Rio de Janeiro die sogenannte Agenda 21. Die Kommunen wurden weltweit aufgefordert unter Beteiligung der Bürger, vor Ort eine sogenannte Lokale Agenda 21 zu erarbeiten. Die Kommunen sollten für das 21. Jahrhundert eine lokale nachhaltige Entwicklung sichern.

Es gab und gibt tausende solcher Prozesse weltweit. Mal gestalten sich diese Agendas mit etwas mehr, mal mit etwas weniger Erfolg. In Luxemburg haben sie nie einen richtigen Durchbruch geschafft. Andere Formen der Bürgerbeteiligung wurden und werden hierzulande praktiziert. Am ehesten kommt die Erarbeitung eines Gemeindeentwicklungsplanes (Plan de développement communal) einer Lokalen Agenda 21 am Nächsten. Sind diese Prozesse Mittel zur Erneuerung der kommunalen Demokratie?

Das Wiener Zentrum für Soziale Innovation (ZSI), eine wissenschaftliche Einrichtung zur Förderung einer offenen und solidarischen Gesellschaft, analysierte die Lokale Agenda 21 Prozesse in Österreich. Die Forscher gingen der Frage nach, ob diese Agenden eine neue Form einer partizipativer Demokratie wären. Ihre Schlussfolgerungen waren ernüchternd: „Die Lokale Agenda 21 als politisches Konzept, (…) ist bislang kein unmittelbarer Auslöser für politische Innovation auf kommunaler Ebene. Sie dient vielfach als Überbau für Wege, die bereits beschritten werden, bietet fast jedem kommunalen Projekt breiten inhaltlichen Rückhalt und ist eine Klammer für kommunale politische Kulturen. (…) Keineswegs neu sind Interpretationen von Zivilgesellschaft und Bürgertugend, die nur in historisch gebundenen, wohlfahrtsstaatlich orientierten, repräsentativ-demokratischen Kontexten als neu erscheinen.“

Wenn man eine partizipative Demokratie will, die die Strukturen der repräsentativen Demokratie stärkt und Bürger in eine neue Rolle versetzt, sind Prozesse wie Gemeindeentwicklungsplan oder Lokale Agenda nicht optimal. Ähnlich verhält es sich bei Initiativen die als „démocratie de proximité“ oder Bürgerkommune bezeichnet werden. Bürgerversammlungen, Quartiersinitiativen greifen für eine partizipative Demokratie zu kurz.

Eine Präsidentschaftskandidatin zeigte Profil.

Ein Ansatzpunkt wäre die Durchführung eines Bürgerhaushaltes, wie im Tageblatt vom 15. und 16. Juni vorgestellt. Hier sind die Ansatzpunkte für eine partizipative Demokratie schon konkreter. In diesem Zusammenhang hat Ségolène Royal mit ihren Überlegungen der Bürgerjurys (Jurys populaires), im Wahlkampf für das französische Präsidentschaftsmandat, eine spannende Debatte ausgelöst. Aufgabe dieser „Jurys populaires“ wäre es, die politische Arbeit der gewählten repräsentativen Politiker in regelmässigen Intervallen zu überprüfen und zu bewerten. Royal tätigte noch weitere Vorschläge, die alle eine klare Zielrichtung aufwiesen: Die absolute Macht der repräsentativen Demokratie sollte gegenüber dem Bürger ein wenig eingeschränkt werden. Im Kern ging es um eine Erneuerung unserer Demokratie.

Bis auf wenige Ausnahmen, lehnte die politische Klasse Frankreichs die Vorschläge strikt ab. Die Kritiker an der partizipativen Demokratie lehnten ihre Vorgehensweise an die seitens 1992 beschriebenen „Rhetorik der Reaktion“ an. Der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschmann analysierte in seiner Veröffentlichung „Denken gegen die Zukunft“, dass alle Forderungen nach mehr Partizipation und Rechten, wie die zivilen Rechte im 18Jh., die politischen im 19Jh. und die sozialen im 20Jh. immer virulente Gegenreaktionen hervorriefen. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob gestandene Politiker, nicht nur in Frankreich, überhaupt eine partizipative Demokratie wollen.

Royal hatte bei ihrem Vorschlag der Bürgerjurys noch einen ganz entscheidenden Punkt hinzugefügt. Nachzulesen in der Tageszeitung Le Monde vom 18. November 2006: „ (…) C’est pourqoui je pense qu’il faudra clarifier la façon dont les élus pourront rendre compte, à intervalles réguliers, à des jurys citoyens tirés au sort.(…)“.

Bürgerjurys durch das Los bestimmt, auf den ersten Blick unvorstellbar, dass so etwas funktionieren könnte. Kann man in der heutigen Politik überhaupt das Los zur Hilfe nehmen?

So unüblich sind Losverfahren in der Geschichte nicht. Es gab sie in der athenischen Demokratie, es gab die „sortitio“, also das Losen in der römischen Republik, die Stadtrepubliken Florenz und Venedig hatten ausgefeilte Losverfahren um zu Entscheidungen zu gelangen. Mit der amerikanischen und französischen Revolution verschwand langsam die Tradition des Losens zur Entscheidungsfindung. Diese Revolutionen führten das Prinzip der repräsentativen Demokratie ein. Die aktive Beteiligung und das Einmischen der einfachen „citoyens“ waren hingegen weniger gefragt.

In den Demokratisierungsprozessen des 18.Jh. und 19 Jh. ging es um allgemeines Wahlrecht, nicht mehr um das Auslosen von Ämtern und Positionen.

Die überschätzten Meinungsumfragen.

Dass Bürger trotzallem nach dem Zufälligkeitsprinzip ausgesucht werden um gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu erforschen und so zu belegen, gibt es häufiger als so manchen bewusst ist. 1824 wurde die erste politische Meinungsumfrage von einer lokalen Zeitung im amerikanischen Harrisburg (Pennsylvania) durchgeführt, der eigentliche Triumphzug dieser Umfragen begann aber erst 1936.

Seitens der Zeitschrift „Literary Digest“ wurde eine sogenannte „ballot poll“ veranstaltet. Das Prinzip einer solchen „Strohumfrage“ war seit über 100 Jahren gleich. Möglichst viele Fragebögen wurden wahllos in Umlauf gebracht um eine vermeintliche Voraussage zu tätigen. 1936 ging es um die Vorhersage wer den nun der zukünftige amerikanische Präsident würde. Trotz annähernd 20 Millionen Postkarten-Stimmzettel, die vom „Literary Digest“ auswertet wurden, lag die Voraussage für den Wahlausgang verheerend falsch. Im Gegenzug veranstaltete das Gallup-Institut mit etwa 4000 Stichproben-Interviews, eine eigene Prognose. Mit einer Fehlerrate von 1% tippte Gallup auf den richtigen, nämlich Franklin D. Roosevelt. Aufgrund einer Umfrage bei einem repräsentativen Querschnitt der Wähler, konnte das Meinungsforschungsinstitut diese Prognose abgeben. Dass dieser repräsentative Querschnitt in seiner definitiven Zusammensetzung auch durch eine Art Zufallsprinzip zustande kam, dürfte jedem einleuchten.

Heute gibt es Umfragen zu allen möglichen und unmöglichen Themen. Politische Parteien richten ihre Strategie nach Umfragen aus, kommunale Vertreter lassen sich oft durch Umfragen in ihrer praktischen Politik beraten. Meinungsumfragen sind zu einem wichtigen Bestandteil unserer Politik geworden. Aber sind sie ein Mittel partizipativer Demokratie?

Hubertus Buchstein, Professor für politische Theorie und Ideengeschichte, ist überzeugt, dass erst das Jahr 1968 der Beginn einer Reformperspektive für unsere Demokratie darstellt. In jenem Jahr wurden die Juroren für die Geschworenengerichte in den USA nicht mehr über Auswahl, sondern durch ein ganz bestimmtes Lossystem ermittelt. Die Juroren bildeten durch dieses Auswahlsystem „a fair cross section of the community“.

Die Beteiligten an Umfragen und die Juroren der Geschworenengerichte werden nach einem wissenschaftlich korrekten Querschnitt, letztendlich aber durch Zufall oder Los ermittelt. Warum aber sieht Buchstein denn die Prozedere um die Gerichtsjuroren als Reformperpektive für unsere Demokratie an? Der Professor an der Universität Greifswald sieht in den Meinungsumfragen einen wesentlichen Schwachpunkt. Bei Umfragen werden Bürger mit Antwortoptionen konfrontiert und das aus ihren Reaktionen gebildete Ergebnis, wird als Ausdruck des Bürgerwillens präsentiert. Derartige Umfragebefunde sind keine echten politischen Willensäusserungen, sondern eine ganz momentane Stimmungssituation, die ohne langes Nachdenken zustande gekommen ist. Für politische Entscheidungen dürften solche Umfragen eigentlich keine Bedeutung haben.

Die Auswahlverfahren der amerikanischen Geschworenenjuroren und besonders die grosse Qualität der dort getätigten Deliberationen, also der Diskussionen und Beratungen sowie das Austauschen von Meinungen machten dieses Modell so interessant und zum Vorläufer verschiedener Projekte partizipativer Demokratie.

Pierre Mendès France schlug 1962 in seiner Veröffentlichung « La République moderne » die Einführung einer partizipativen Demokratie vor: « La démocratie ne consiste pas à mettre épisodiquement un bulletin dans une case, à déléguer les pouvoirs à un ou plusieurs élus, puis à se désintéresser, s’abstenir, se taire pendant cinq ans. Elle est action continuelle du citoyen et requiert à ce titre sa présence vigilante. »

Kann dies in einer Kommune funktionieren? Welche Modelle sind denk- und machbar? Eine kommunalpolitische „Träumerei“ in einem nächsten Beitrag.

Raymond Becker

Präsident der Intra Muros asbl

Echternach

Tageblatt 26/27.6. 2009

Für einen Bürgerhaushalt.

Mehr Demokratie wagen:

Für einen Bürgerhaushalt!

„Wir wollen mehr Demokratie wagen!“. Willy Brandt anlässlich seiner Regierungserklärung 1969.

In Zeiten der Globalisierung wo einfach alles weltweit ähnlicher und austauschbarer wird, steigt bei Menschen das Bedürfnis sich an etwas ganz konkretem zu orientieren und mit etwas Handfestes zu identifizieren. Die Regionen und Kommunen spielen bei dieser Orientierungssuche eine ganz entscheidende Rolle. Wie gelingt es Bürger zusammenzuführen um sich in ihrer Region, in ihrer Gemeinde einfach wohl zu fühlen? Dies kann durch eine stärkere Einbindung an der konkreten Gestaltung ihres Lebensumfeldes erreicht werden. So bleibt die Vision von Willy Brandt weiterhin aktuell.

Seit dem Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro, gibt es einen Paradigmenwechsel in der kommunalen Bürgerbeteiligung. In den 70ger und 80ger Jahren waren die Bürgerinitiativen eher Protestbewegungen. In den 90ger Jahren mit dem Hintergrund der Entscheidungen von Rio, Stichwort „Lokale Agenda 21“, versuchen viele Kommunen verstärkt, die Bürger für eine Mitarbeit zu gewinnen.

Im Rahmen des ersten Weltsozialforums im Jahre 2001, offenbarte sich der Tagungsort, die brasilianische Stadt Porto Alegre, in vielerlei Hinsichten als Lichtblick. Eine Idee gelangte in die breite Öffentlichkeit, die sofort eine große Faszination ausübte: Die Bürger von Porto Alegre entscheiden über ihren kommunalen Haushalt. Sie entscheiden über wichtige Investitionen ihrer Stadt. Seit 1989 wird ein „Orçamento Participativo“ ein Bürgerhaushalt praktiziert. Die drei Prinzipien Basisdemokratie, soziale Gerechtigkeit und Kontrolle durch die Bürger, sind grundlegende Elemente.

Porto Alegre hat sich durch diese politische Initiative grundlegend verändert. Die öffentliche Infrastruktur (Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Müllentsorgung, Trinkwasserversorgung und Kanalisation) hat sich wesentlich verbessert. Hinzu kam, dass die Zivilgesellschaft gestärkt wurde. So ist es gelungen das besonders in Brasilien vertraute System der Korruption und der Vetternwirtschaft offen zulegen und gezielt zu durchbrechen.

Mit ihrem Bürgerhaushalt kann Porto Alegre aber nicht alles erledigen. Es bleiben Favelas und Armut, die finanziellen Mittel fehlen um Wohnungsbau, Arbeit und Einkommen zu sichern. Die Abhängigkeit von der Provinz- und Landesregierung ist weiterhin enorm.

Porto Alegre zeigt aber ganz konkret, wie Bürgerbeteiligung funktionieren kann. Die Stadt ist zu einem Symbol für eine neue Demokratie geworden. Interessant in diesem Zusammenhang, dass sich sowohl die Globalisierungskritiker, wie auch die Weltbank gleichermaßen auf das Projekt berufen. Die Stadt gilt heute nach den Kriterien der Vereinten Nationen als eine der lebenswertesten Städte der südlichen Hemisphäre.

Es dürfte kaum überraschen, dass diese Initiative weltweit Nachahmer fand. Auch in Europa findet der Bürgerhaushalt zunehmend Anhänger, in großen wie in kleinen Kommunen. Spanien (hier sind schon über 5% der Gesamtbevölkerung in Bürgerhaushalte eingebunden), Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Portugal und Polen gehören zu den Vorreitern. Die politisch Verantwortlichen in den jeweiligen Kommunen sind sich bewusst, dass ein Bürgerhaushalt zu einem der erfolgreichsten Partizipationsinstrumente der letzten Jahrzehnte gehört.

Sechs interessante Varianten…

Nun sind die angewandten Modelle in Europa nicht unbedingt alle deckungsgleich mit den Vorgaben aus Porto Alegre.

Eine europaweite Vergleichsstudie (Les budgets participatifs en Europe – Sintomer, Herzberg, Röcke – Éditions La Découverte) beschreibt 6 verschiedene Modelle interessanter Bürgerhaushalte.

In der spanischen Stadt Cordoba und in der italienischen Kommune Grottammare werden seit Jahren Bürgerhaushalte nach dem brasilianischen Vorbild angewandt. Es geht hier vor allem um konkrete Investitionen, wie allgemeine Infrastrukturen und sehr oft um soziale Projekte. Zwar treffen die Gemeinderäte weiterhin die politischen Entscheidungen über den Haushalt, doch das Mitspracherecht der Bürger ist sehr hoch. Die Stadträte haben sich klare Verbindlichkeiten zur Umsetzung der Vorschläge der Bürger auferlegt.

Französische Kommunen, wie Saint-Denis oder Bobigny, praktizieren eine bürgernahe Partizipation als Form des Bürgerhaushaltes. Hier stehen eher Vorschläge für eine konkrete Verbesserung für einen Stadtteil oder einem kommunalen Quartier im Fokus. Ziel ist auch den Kontakt zwischen Politik, Verwaltung und Bürgern zu verbessern. Im Unterschied zu Cordoba und Grottammare sind die Vorschläge der Bürger nur Richtlinien für die Politik.

Deutsche Kommunen, wie Emsdetten oder Vlotho, tendieren eher zu einer Konsultation über die öffentlichen Finanzen. Hier wird Wert auf die Transparenz der jeweiligen finanziellen Situation gelegt. Wie steht es mit den Einnahmen und Ausgaben in klassischen Dienstleistungsbereichen wie Wasser, Müll oder wie kann ein Haushaltsdefizit ausgeglichen werden.

Diese Form eines Bürgerhaushaltes hat sein Vorbild in der Stadt Christchurch. In der Fachliteratur über kommunale Verwaltungen gilt die neuseeländische Stadt als „best running city oft the world“. Christchurch begann übrigens zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie Porto Alegre mit seinem Bürgerhaushalt.

Ein Bürgerhaushalt der sich vorrangig an Vereine, Verbände und Initiativen richtet, gilt als eine Partizipation organisierter Interessen. Hier stehen Diskussionen im Vordergrund welche politischen Vorgaben den Fragen der Mobilität, der Umwelt, den sozialen Fragen oder der ökonomischen Entwicklung zu geben sind. Die Beteiligung hat vorwiegend konsultativen Charakter. Mit Erfolg praktiziert die spanische Stadt Albacete diese Form eines Bürgerhaushaltes.

Das Modell eines privaten/öffentlichen Verhandlungstischs wird im polnischen Plock angewandt. Hierbei wird ein Fonds seitens der Kommune, privaten Unternehmer und europäischen respektive internationalen Programmen gespeist. Ganz grob kann man die Vorgehensweise dieses Bürgerhaushaltes mit der Arbeitsweise bei Projekten in der Kooperationspolitik vergleichen. Nach klar definierten Regeln stellen lokale Vereinigungen Anträge für gezielte Projekte.

Laut der aktuellen Fachliteratur hat der folgende der angewandten Modelle interessante Perspektiven für europäische Bürgerhaushalte.

Hier sei vorerst ein Hinweis zu den BID’s (Buisness Improvement District) erlaubt. Im Tageblatt vom 11. und 13. Februar 2009 wurde die Form dieses „Private Public-Partnership (PPP)“ ausführlich dargelegt.

In der britischen Stadt Bradford besteht ein Bürgerhaushalt in Form eines „Community Group Funding“ (Fonds für Gemeinwesen). Diese Variante ähnelt der Angehensweise eines BID-Projektes. Interessant hier ist, dass diese Modelle relativ unabhängig vom kommunalen Haushalt sind. Das zur Verfügung stehende Geld für Projekte im Sozial-, Umwelt- oder Kulturbereich kommen nicht oder nur zu einem geringen Teil aus kommunalen Haushaltsmitteln. Die Fonds werden vorrangig aus nationalen und europäischen Programmen gespeist. Die beteiligten Gruppen wie Vereine und Initiativen haben hier eine weitgehende Entscheidungsfreiheit.

Es gibt wie aufgezeigt eine Reihe möglicher Formen eines Bürgerhaushaltes. Letztlich muss eine Kommune entscheiden für welchen Weg oder für welchen Mix an Möglichkeiten sie sich entscheidet.

… und fünf klare Vorgaben.

Um nun nicht jede informative Bürgerversammlung zu einem Bürgerhaushalt hochzustilisieren, gibt es in der Fachliteratur allgemein verbindliche Mindestkriterien (Sintomer, Herzberg, Röcke 2005). Diese  Kriterien legen fest, ab wann überhaupt von einem Bürgerhaushalt gesprochen werden kann:

  1. Die finanzielle Dimension muss diskutiert werden. In einem Bürgerhaushalt geht es um begrenzte Ressourcen.
  2. Die Beteiligung findet auf Ebene der Gesamtkommune statt.
  3. Es handelt sich um ein auf Dauer angelegtes und wiederholtes Verfahren. Eine einmalige Veranstaltung ist kein Bürgerhaushalt.
  4. Der Prozess beruht auf einem eigenständigen öffentlichen Diskussionsprozess. Die Miteinbeziehung von Bürgern in bestehende Strukturen der repräsentativen Demokratie, wie kommunale Kommissionen, stellt keinen Bürgerhaushalt dar.
  5. Es muss eine Rechenschaft in Bezug darauf ablegt werden, inwieweit die im Verfahren geäußerten Vorschläge der Beteiligten aufgegriffen und umgesetzt werden.

Im April 2007 haben die Vereinten Nationen eine Resolution betreffend „Leitlinien zur Dezentralisierung und Stärkung der lokalen Demokratie“ verabschiedet. Das Gremium bekräftigt ausdrücklich, dass die Kommunen partnerschaftlich mit den Akteuren der sogenannten Zivilgesellschaft kooperieren und bürgerschaftliches Engagement in die Entscheidungsfindung einbinden sollten. Gefordert werden auch Bemühungen um neue Formen der Teilnahme, wie z.B. Mitwirkung auf elektronischem Wege (e-Demokratie), in die Wege zu leiten.

Die Stadt Trier geht konsequent in diese Richtung. Vor wenigen Wochen beschloss der Trierer Stadtrat ein Verfahren und feste Regeln zur Einführung eines Bürgerhaushaltes. Trier ist somit die erste Kommune in Rheinland-Pfalz die ihren Bürgern diese Form der Partizipation anbietet. Es werden hierzu vor allem neue Beteiligungsmöglichkeiten des Internet berücksichtigt. Ab sofort können die Trierer Bürger ihr „e-Wörtchen“ mitreden. Der Stadtrat entscheidet im Dezember welche Vorschläge im Haushalt 2010 umgesetzt werden. Wichtig ist, dass öffentlich dargelegt werden muss, was aus den Vorschlägen der Bürger geworden ist.

Die kommunale Ebene ist die Stelle um die Vision Willy Brandts in eine realistische Utopie zu wandeln. Ein Bürgerhaushalt wäre eine Möglichkeit. In einem weiteren Artikel werden im Sinne von „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, Modelle wie „Citizens’ Jury“, Deliberationsforum, Konsensuskonferenz oder Bürgerbeteiligungsverfahren „Planungszelle“ erläutert.

Raymond Becker

Präsident der Intra Muros asbl

Echternach

Tageblatt 15/16. 6. 2009

Kann eine Vision Realität werden?

Eine atomwaffenfreie Welt:
Kann eine Vision Realität werden?

„Ein Thema, das ganz entscheidend für die Sicherheit der Nationen ist und für den Frieden in der Welt, ist die Zukunft der Atomwaffen im 21. Jahrhundert. Die Existenz Tausender von Atomwaffen ist das gefährlichste Erbe des Kalten Krieges. (…) Der Kalte Krieg ist zu Ende gegangen. Und Tausende dieser Waffen existieren weiter. Es ist eine seltsame Wendung der Geschichte: Die Gefahr eines weltweiten Atomkrieges hat sich verringert, das Risiko eines atomaren Angriffs ist gestiegen. (…) Einige sagen, dass sich die Verbreitung dieser Waffen nicht stoppen lässt, sich nicht kontrollieren lässt, dass wir das Schicksal akzeptieren müssen, wo immer mehr Menschen und Völker diese schrecklichen Vernichtungswaffen besitzen. Ein solcher Fatalismus wäre ein tödlicher Gegner. (…)“

Barack Obama in seiner Prager Rede am 5. April 2009

Was hätte die luxemburgische Friedensbewegung in den 80ger Jahren darum gegeben, ähnliche Aussagen eines amerikanischen Präsidenten zu hören. Die Verschrottung der atomaren Massenvernichtungswaffen war immer ein Anliegen der Friedensbewegung.

Es sind aber nicht nur die Atomwaffen die eine reale Gefahr darstellen. Ein Blick in die Jahresberichte des renommierten internationalen Stockholmer Friedensinstitutes SIPRI zeigt in ihren Analysen den unvorstellbaren finanziellen Impakt der gesamten Militärausgaben weltweit.

So rechnet das schwedische Institut in seinem Jahresbericht 2008 vor, dass die weltweiten Militärausgaben von 1998 bis 2007 einen realen Zuwachs von 45% verzeichnen. Geschätzt ergibt dies eine Ausgabe von unbeschreiblichen 1.339 Milliarden USD, das ist eine durchschnittliche Pro-Kopfausgabe von 202 USD für militärische Zwecke. Allein die USA sind hier für 45% der weltweiten Ausgaben verantwortlich. Mit Abstand folgen Großbritannien, China, Frankreich und Japan mit jeweils 4-5%, Russland, Deutschland, Italien und Saudi-Arabien liegen bei 3%.

„Pecunia non olet“.

Die weltweiten Militärausgaben werden steigen weiter. Das Geschäft mit Waffen boomt nach wie vor. In den Top-10 der größten Waffenproduzenten der Welt im Jahre 2006, befinden sich 6 amerikanische Firmen wie Boeing oder Lockheed-Martin als Branchenleader, sowie deren 4 aus Europa, die BAE-Systems aus Großbritannien, die EADS als westeuropäisches Konsortium, die italienische Finmeccanica und die französische Firma Thales. Allein in besagtem Rechnungsjahr verbuchten diese Firmen durch Waffenverkäufe über 13.000 Millionen USD Profit.

Als der römische Kaiser Vespasian seinem Sohn Titus das Geld aus den Einnahmen der Urinsteuer unter die Nase rieb, entstand die lateinische Redewendung „Pecunia non olet“ – Geld stinkt nicht. Die Waffenproduzenten werden sich wohl das Gleiche beim Einstreichen ihrer Profite denken.

Zu Luft, zur See und an Land, überall gibt es militärische Einsatzmöglichkeiten mit den verschiedensten Waffen und Waffenträger. Unterschätzt werden die sogenannten Klein- und Leichtwaffen wie Revolver, Gewehre, Maschinengewehre, Mörser, Handgranaten, Landminen, Streumunition oder tragbare Raketenabschussvorrichtungen. Sie stellen eine enorme Bedrohung für den Frieden und die Demokratie dar. Hinzu kommt der skrupellose illegale Handel. Über 900 Millionen dieser Waffen sind weltweit in Umlauf. Schätzungen gehen davon aus, dass jährlich über eine halbe Million Menschen allein durch Kleinwaffen wie Revolver und Gewehre getötet werden. Die große Mehrheit der Opfer sind Kinder und Frauen.

Der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan, wies immer wieder auf eine notwendige erhöhte Aufmerksamkeit in Bezug auf die Gefahrensituation durch diese Klein- und Leichtwaffen hin. Sie sind die wahren Massenvernichtungswaffen unserer Zeit. Zu begrüßen ist, dass die Europäische Union konkrete Anstrengungen unternimmt um zu international klaren Verträgen, wie das Feuerwaffenprotokoll zu kommen. Aber noch sind die Schlupflöcher für die Waffenlobby zu groß. SIPRI hat berechnet, dass zwischen 2003 und 2007 allein aus Tschechien Kriegswaffen im Wert von über 60 Millionen € nach Georgien geliefert wurden.

Sie gefährden die Sicherheit.

Allen Klein- und Leichtwaffen zum Trotz, werden die atomaren Massenvernichtungswaffen heute als die größte Gefahr für die Sicherheit der Nationen angesehen. Aufgrund ihrer ungeheuren, eigentlich unvorstellbaren, Zerstörungskraft muss dem zugestimmt werden.

Im Januar 2008 besaßen die acht Atomwaffenstaaten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan und Israel, mehr als 25.000 Atomsprengköpfe, davon waren über 10.000 zügig einsetzbar. In diesem Zusammenhang nicht zu vergessen die weltweiten Bestände an etwa 2.500 Tonnen hoch angereichertem Uran und 500 Tonnen Plutonium. Stoff aus dem Atomwaffenträume sind. Material das für geschätzte 160.000 Sprengköpfe ausreichen würde. Sicherheitspolitisch sei zu bemerken, dass es nicht nur in den oben zitierten Atomwaffenstaaten lagert.

Fast unbekannt ist, dass rund um die Uhr weltweit über 2.300 Atomwaffen unter höchster Alarmbereitschaft stehen. Sie sind minutenschnell startbereit. In einem rezenten Brief an den amerikanischen Präsidenten Obama und den russischen Präsidenten Medvedev, zitieren die „International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) eine Studie die nachweist, dass 300 russische Raketen in der ersten halben Stunde 90 Millionen Menschen in den USA töten würden. Die postwendende Antwort der USA hätte in Russland die gleichen Konsequenzen. Die These der Friedensbewegung aus den 80ger Jahren, dass derjenige der zuerst schießt, als zweiter stirbt, behält seine Gültigkeit. Die direkten Folgen für die Überlebenden kann man sich heute noch in dem sehr bewegenden Spielfilm „The Day After“ ansehen.

Die IPPNW sendete ihr Schreiben schon an die richtigen Adressaten. Die USA und Russland besitzen über 95% aller Atomwaffen.

Es überrascht schon wie ehemalige Politiker die nicht alle unbedingt als abrüstungsfreudig galten, heute radikal für eine atomwaffenfreie Welt werben.

Vier „elder statesmen“, Henry Kissinger, George Schultz, William Perry und Sam Nunn haben durch eine Stellungnahme im „Wall Street Journal“ im Jahre 2007, für eine atomwaffenfreie Welt aufgerufen. Durch die breitere Verfügbarkeit von Atomwaffen verliert die Abschreckung zunehmend an Effektivität und wird zudem selbst immer riskanter, dies ist der inhaltliche Tenor der US-Politiker. Michail Gorbatschow der für die damalige UdSSR die ersten Verträge zur tatsächlichen Reduzierung von Atomwaffen unterschrieb, hielt es für seine Pflicht, den Aufruf zu unterstützen: „Es wird immer klarer, dass Atomwaffen nicht länger taugen, um Sicherheit zu erreichen, sondern unsere Sicherheit mit jedem Jahr mehr gefährden.“

Im Januar dieses Jahres gab es prominente und teils überraschende Unterstützung für die amerikanische Initiative. Helmut Schmidt, Richard von Weizäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher unterstützten ohne Vorbehalt den geforderten scharfen Richtungswechsel der USA und anderen Ländern in der Atompolitik. Die ehemaligen deutschen Politiker setzen auf internationale Zusammenarbeit und haben große Hoffnung in Barack Obama.

Nach der Prager Rede kann aus einer Vision jetzt schrittweise Realität werden. Die atomare Abrüstung ist keine Träumerei mehr. Ein erster Schritt muss das Nachfolgeabkommen zur Reduzierung strategischer Waffen (START I) zwischen den USA und Russland werden. Noch in diesem Jahr wollen die beiden Mächte sich hierüber einigen. Aufgrund ihrer dominanten Situation bei den Atomwaffen, müssen die USA und Russland den ersten Schritt tun. Eine Stärkung des Atomteststopp-Vertrages, sowie ein Erfolg bei der anstehenden Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages wären weitere wichtige Schritte.

Kein globales Problem ist durch Konfrontation und militärische Aktionen zu lösen. Zusammenarbeit heißt die Lösungsformel.

Mehr als eine Bettlektüre ist das seitens Barack Obama im Jahre 2006 veröffentlichte Buch „The Audacity of Hope – Thoughts on Reclaiming the American Dream“. Hier beklagt er die Polarisierung und Ideologisierung der US-Politik unter der Bush-Administration. Er entwirft gleichzeitig ein problembewusstes visionäres Bild der internationalen Politik.

Seine Prager Rede ist die logische Konsequenz seiner Vorstellungen. Schon allein diese konsequente Herangehensweise verdient unser aller Unterstützung.

„Ich bin nicht naiv. Das Ziel wird sich nicht rasch erreichen lassen. Vielleicht auch nicht in der Zeit meines Lebens. Es wird Geduld und Beharrlichkeit erfordern. Aber jetzt müssen wir die Stimmen jener ignorieren, die sagen, dass die Welt sich nicht ändern kann.“ – Präsident Obama in Prag.

Vielleicht wäre es an der Zeit, sich auch in Luxemburg wieder konsequenter als Bürger in diese Diskussionen einzumischen. Nur durch Einmischen, durch kritisches Begleiten, können solche Visionen für unsere Kinder zur Realität werden.

Raymond Becker

Ehemaliger Koordinator der „Aktioun fir de Fridden“.

Tageblatt   2.6.2009