Für einen Bürgerhaushalt.

Mehr Demokratie wagen:

Für einen Bürgerhaushalt!

„Wir wollen mehr Demokratie wagen!“. Willy Brandt anlässlich seiner Regierungserklärung 1969.

In Zeiten der Globalisierung wo einfach alles weltweit ähnlicher und austauschbarer wird, steigt bei Menschen das Bedürfnis sich an etwas ganz konkretem zu orientieren und mit etwas Handfestes zu identifizieren. Die Regionen und Kommunen spielen bei dieser Orientierungssuche eine ganz entscheidende Rolle. Wie gelingt es Bürger zusammenzuführen um sich in ihrer Region, in ihrer Gemeinde einfach wohl zu fühlen? Dies kann durch eine stärkere Einbindung an der konkreten Gestaltung ihres Lebensumfeldes erreicht werden. So bleibt die Vision von Willy Brandt weiterhin aktuell.

Seit dem Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro, gibt es einen Paradigmenwechsel in der kommunalen Bürgerbeteiligung. In den 70ger und 80ger Jahren waren die Bürgerinitiativen eher Protestbewegungen. In den 90ger Jahren mit dem Hintergrund der Entscheidungen von Rio, Stichwort „Lokale Agenda 21“, versuchen viele Kommunen verstärkt, die Bürger für eine Mitarbeit zu gewinnen.

Im Rahmen des ersten Weltsozialforums im Jahre 2001, offenbarte sich der Tagungsort, die brasilianische Stadt Porto Alegre, in vielerlei Hinsichten als Lichtblick. Eine Idee gelangte in die breite Öffentlichkeit, die sofort eine große Faszination ausübte: Die Bürger von Porto Alegre entscheiden über ihren kommunalen Haushalt. Sie entscheiden über wichtige Investitionen ihrer Stadt. Seit 1989 wird ein „Orçamento Participativo“ ein Bürgerhaushalt praktiziert. Die drei Prinzipien Basisdemokratie, soziale Gerechtigkeit und Kontrolle durch die Bürger, sind grundlegende Elemente.

Porto Alegre hat sich durch diese politische Initiative grundlegend verändert. Die öffentliche Infrastruktur (Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Müllentsorgung, Trinkwasserversorgung und Kanalisation) hat sich wesentlich verbessert. Hinzu kam, dass die Zivilgesellschaft gestärkt wurde. So ist es gelungen das besonders in Brasilien vertraute System der Korruption und der Vetternwirtschaft offen zulegen und gezielt zu durchbrechen.

Mit ihrem Bürgerhaushalt kann Porto Alegre aber nicht alles erledigen. Es bleiben Favelas und Armut, die finanziellen Mittel fehlen um Wohnungsbau, Arbeit und Einkommen zu sichern. Die Abhängigkeit von der Provinz- und Landesregierung ist weiterhin enorm.

Porto Alegre zeigt aber ganz konkret, wie Bürgerbeteiligung funktionieren kann. Die Stadt ist zu einem Symbol für eine neue Demokratie geworden. Interessant in diesem Zusammenhang, dass sich sowohl die Globalisierungskritiker, wie auch die Weltbank gleichermaßen auf das Projekt berufen. Die Stadt gilt heute nach den Kriterien der Vereinten Nationen als eine der lebenswertesten Städte der südlichen Hemisphäre.

Es dürfte kaum überraschen, dass diese Initiative weltweit Nachahmer fand. Auch in Europa findet der Bürgerhaushalt zunehmend Anhänger, in großen wie in kleinen Kommunen. Spanien (hier sind schon über 5% der Gesamtbevölkerung in Bürgerhaushalte eingebunden), Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Portugal und Polen gehören zu den Vorreitern. Die politisch Verantwortlichen in den jeweiligen Kommunen sind sich bewusst, dass ein Bürgerhaushalt zu einem der erfolgreichsten Partizipationsinstrumente der letzten Jahrzehnte gehört.

Sechs interessante Varianten…

Nun sind die angewandten Modelle in Europa nicht unbedingt alle deckungsgleich mit den Vorgaben aus Porto Alegre.

Eine europaweite Vergleichsstudie (Les budgets participatifs en Europe – Sintomer, Herzberg, Röcke – Éditions La Découverte) beschreibt 6 verschiedene Modelle interessanter Bürgerhaushalte.

In der spanischen Stadt Cordoba und in der italienischen Kommune Grottammare werden seit Jahren Bürgerhaushalte nach dem brasilianischen Vorbild angewandt. Es geht hier vor allem um konkrete Investitionen, wie allgemeine Infrastrukturen und sehr oft um soziale Projekte. Zwar treffen die Gemeinderäte weiterhin die politischen Entscheidungen über den Haushalt, doch das Mitspracherecht der Bürger ist sehr hoch. Die Stadträte haben sich klare Verbindlichkeiten zur Umsetzung der Vorschläge der Bürger auferlegt.

Französische Kommunen, wie Saint-Denis oder Bobigny, praktizieren eine bürgernahe Partizipation als Form des Bürgerhaushaltes. Hier stehen eher Vorschläge für eine konkrete Verbesserung für einen Stadtteil oder einem kommunalen Quartier im Fokus. Ziel ist auch den Kontakt zwischen Politik, Verwaltung und Bürgern zu verbessern. Im Unterschied zu Cordoba und Grottammare sind die Vorschläge der Bürger nur Richtlinien für die Politik.

Deutsche Kommunen, wie Emsdetten oder Vlotho, tendieren eher zu einer Konsultation über die öffentlichen Finanzen. Hier wird Wert auf die Transparenz der jeweiligen finanziellen Situation gelegt. Wie steht es mit den Einnahmen und Ausgaben in klassischen Dienstleistungsbereichen wie Wasser, Müll oder wie kann ein Haushaltsdefizit ausgeglichen werden.

Diese Form eines Bürgerhaushaltes hat sein Vorbild in der Stadt Christchurch. In der Fachliteratur über kommunale Verwaltungen gilt die neuseeländische Stadt als „best running city oft the world“. Christchurch begann übrigens zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie Porto Alegre mit seinem Bürgerhaushalt.

Ein Bürgerhaushalt der sich vorrangig an Vereine, Verbände und Initiativen richtet, gilt als eine Partizipation organisierter Interessen. Hier stehen Diskussionen im Vordergrund welche politischen Vorgaben den Fragen der Mobilität, der Umwelt, den sozialen Fragen oder der ökonomischen Entwicklung zu geben sind. Die Beteiligung hat vorwiegend konsultativen Charakter. Mit Erfolg praktiziert die spanische Stadt Albacete diese Form eines Bürgerhaushaltes.

Das Modell eines privaten/öffentlichen Verhandlungstischs wird im polnischen Plock angewandt. Hierbei wird ein Fonds seitens der Kommune, privaten Unternehmer und europäischen respektive internationalen Programmen gespeist. Ganz grob kann man die Vorgehensweise dieses Bürgerhaushaltes mit der Arbeitsweise bei Projekten in der Kooperationspolitik vergleichen. Nach klar definierten Regeln stellen lokale Vereinigungen Anträge für gezielte Projekte.

Laut der aktuellen Fachliteratur hat der folgende der angewandten Modelle interessante Perspektiven für europäische Bürgerhaushalte.

Hier sei vorerst ein Hinweis zu den BID’s (Buisness Improvement District) erlaubt. Im Tageblatt vom 11. und 13. Februar 2009 wurde die Form dieses „Private Public-Partnership (PPP)“ ausführlich dargelegt.

In der britischen Stadt Bradford besteht ein Bürgerhaushalt in Form eines „Community Group Funding“ (Fonds für Gemeinwesen). Diese Variante ähnelt der Angehensweise eines BID-Projektes. Interessant hier ist, dass diese Modelle relativ unabhängig vom kommunalen Haushalt sind. Das zur Verfügung stehende Geld für Projekte im Sozial-, Umwelt- oder Kulturbereich kommen nicht oder nur zu einem geringen Teil aus kommunalen Haushaltsmitteln. Die Fonds werden vorrangig aus nationalen und europäischen Programmen gespeist. Die beteiligten Gruppen wie Vereine und Initiativen haben hier eine weitgehende Entscheidungsfreiheit.

Es gibt wie aufgezeigt eine Reihe möglicher Formen eines Bürgerhaushaltes. Letztlich muss eine Kommune entscheiden für welchen Weg oder für welchen Mix an Möglichkeiten sie sich entscheidet.

… und fünf klare Vorgaben.

Um nun nicht jede informative Bürgerversammlung zu einem Bürgerhaushalt hochzustilisieren, gibt es in der Fachliteratur allgemein verbindliche Mindestkriterien (Sintomer, Herzberg, Röcke 2005). Diese  Kriterien legen fest, ab wann überhaupt von einem Bürgerhaushalt gesprochen werden kann:

  1. Die finanzielle Dimension muss diskutiert werden. In einem Bürgerhaushalt geht es um begrenzte Ressourcen.
  2. Die Beteiligung findet auf Ebene der Gesamtkommune statt.
  3. Es handelt sich um ein auf Dauer angelegtes und wiederholtes Verfahren. Eine einmalige Veranstaltung ist kein Bürgerhaushalt.
  4. Der Prozess beruht auf einem eigenständigen öffentlichen Diskussionsprozess. Die Miteinbeziehung von Bürgern in bestehende Strukturen der repräsentativen Demokratie, wie kommunale Kommissionen, stellt keinen Bürgerhaushalt dar.
  5. Es muss eine Rechenschaft in Bezug darauf ablegt werden, inwieweit die im Verfahren geäußerten Vorschläge der Beteiligten aufgegriffen und umgesetzt werden.

Im April 2007 haben die Vereinten Nationen eine Resolution betreffend „Leitlinien zur Dezentralisierung und Stärkung der lokalen Demokratie“ verabschiedet. Das Gremium bekräftigt ausdrücklich, dass die Kommunen partnerschaftlich mit den Akteuren der sogenannten Zivilgesellschaft kooperieren und bürgerschaftliches Engagement in die Entscheidungsfindung einbinden sollten. Gefordert werden auch Bemühungen um neue Formen der Teilnahme, wie z.B. Mitwirkung auf elektronischem Wege (e-Demokratie), in die Wege zu leiten.

Die Stadt Trier geht konsequent in diese Richtung. Vor wenigen Wochen beschloss der Trierer Stadtrat ein Verfahren und feste Regeln zur Einführung eines Bürgerhaushaltes. Trier ist somit die erste Kommune in Rheinland-Pfalz die ihren Bürgern diese Form der Partizipation anbietet. Es werden hierzu vor allem neue Beteiligungsmöglichkeiten des Internet berücksichtigt. Ab sofort können die Trierer Bürger ihr „e-Wörtchen“ mitreden. Der Stadtrat entscheidet im Dezember welche Vorschläge im Haushalt 2010 umgesetzt werden. Wichtig ist, dass öffentlich dargelegt werden muss, was aus den Vorschlägen der Bürger geworden ist.

Die kommunale Ebene ist die Stelle um die Vision Willy Brandts in eine realistische Utopie zu wandeln. Ein Bürgerhaushalt wäre eine Möglichkeit. In einem weiteren Artikel werden im Sinne von „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, Modelle wie „Citizens’ Jury“, Deliberationsforum, Konsensuskonferenz oder Bürgerbeteiligungsverfahren „Planungszelle“ erläutert.

Raymond Becker

Präsident der Intra Muros asbl

Echternach

Tageblatt 15/16. 6. 2009