Kann das Los ein Wegweiser sein?

Mehr Demokratie wagen:

Kann das Los ein Wegweiser sein?

„Wir müssen unseren Teil der Verantwortung, für das was geschieht und das was unterbleibt, aus der öffentlichen Hand in die eigenen Hände zurücknehmen“. – Erich Kästner

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Warnfried Dettling analysiert, dass es den Menschen besser geht, wenn sie das Gefühl haben in einer Gesellschaft zu leben, in der es gerecht zugeht, die gut organisiert ist und die etwas von ihnen erwartet. Menschen, so Dettling, sind insgesamt aktiver, flexibler und auch risikobereiter, wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen und sie sich darauf verlassen können.

Es geht Dettling um eine aktive Bürgergesellschaft die sich einer starken Demokratie verpflichtet fühlt. Eine aktive Bürgergesellschaft lebt aber eindeutig von der Unterstützung und der Akzeptanz der Politik. Hier muss der Wille bestehen die aktuelle Zuschauerdemokratie in eine Bürgergesellschaft zu wandeln. Dies geht aber nur über eine Erneuerung unserer Demokratie. Es geht darum, die heutige repräsentative Demokratie durch neue Formen einer partizipatorischen Teilnahme der Bürger zu ergänzen und zu stärken.

Im Jahre 1992 glaubte man den berühmten Stein des Weisen gefunden zu haben. Die UNO verabschiedete auf ihrem Gipfel in Rio de Janeiro die sogenannte Agenda 21. Die Kommunen wurden weltweit aufgefordert unter Beteiligung der Bürger, vor Ort eine sogenannte Lokale Agenda 21 zu erarbeiten. Die Kommunen sollten für das 21. Jahrhundert eine lokale nachhaltige Entwicklung sichern.

Es gab und gibt tausende solcher Prozesse weltweit. Mal gestalten sich diese Agendas mit etwas mehr, mal mit etwas weniger Erfolg. In Luxemburg haben sie nie einen richtigen Durchbruch geschafft. Andere Formen der Bürgerbeteiligung wurden und werden hierzulande praktiziert. Am ehesten kommt die Erarbeitung eines Gemeindeentwicklungsplanes (Plan de développement communal) einer Lokalen Agenda 21 am Nächsten. Sind diese Prozesse Mittel zur Erneuerung der kommunalen Demokratie?

Das Wiener Zentrum für Soziale Innovation (ZSI), eine wissenschaftliche Einrichtung zur Förderung einer offenen und solidarischen Gesellschaft, analysierte die Lokale Agenda 21 Prozesse in Österreich. Die Forscher gingen der Frage nach, ob diese Agenden eine neue Form einer partizipativer Demokratie wären. Ihre Schlussfolgerungen waren ernüchternd: „Die Lokale Agenda 21 als politisches Konzept, (…) ist bislang kein unmittelbarer Auslöser für politische Innovation auf kommunaler Ebene. Sie dient vielfach als Überbau für Wege, die bereits beschritten werden, bietet fast jedem kommunalen Projekt breiten inhaltlichen Rückhalt und ist eine Klammer für kommunale politische Kulturen. (…) Keineswegs neu sind Interpretationen von Zivilgesellschaft und Bürgertugend, die nur in historisch gebundenen, wohlfahrtsstaatlich orientierten, repräsentativ-demokratischen Kontexten als neu erscheinen.“

Wenn man eine partizipative Demokratie will, die die Strukturen der repräsentativen Demokratie stärkt und Bürger in eine neue Rolle versetzt, sind Prozesse wie Gemeindeentwicklungsplan oder Lokale Agenda nicht optimal. Ähnlich verhält es sich bei Initiativen die als „démocratie de proximité“ oder Bürgerkommune bezeichnet werden. Bürgerversammlungen, Quartiersinitiativen greifen für eine partizipative Demokratie zu kurz.

Eine Präsidentschaftskandidatin zeigte Profil.

Ein Ansatzpunkt wäre die Durchführung eines Bürgerhaushaltes, wie im Tageblatt vom 15. und 16. Juni vorgestellt. Hier sind die Ansatzpunkte für eine partizipative Demokratie schon konkreter. In diesem Zusammenhang hat Ségolène Royal mit ihren Überlegungen der Bürgerjurys (Jurys populaires), im Wahlkampf für das französische Präsidentschaftsmandat, eine spannende Debatte ausgelöst. Aufgabe dieser „Jurys populaires“ wäre es, die politische Arbeit der gewählten repräsentativen Politiker in regelmässigen Intervallen zu überprüfen und zu bewerten. Royal tätigte noch weitere Vorschläge, die alle eine klare Zielrichtung aufwiesen: Die absolute Macht der repräsentativen Demokratie sollte gegenüber dem Bürger ein wenig eingeschränkt werden. Im Kern ging es um eine Erneuerung unserer Demokratie.

Bis auf wenige Ausnahmen, lehnte die politische Klasse Frankreichs die Vorschläge strikt ab. Die Kritiker an der partizipativen Demokratie lehnten ihre Vorgehensweise an die seitens 1992 beschriebenen „Rhetorik der Reaktion“ an. Der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschmann analysierte in seiner Veröffentlichung „Denken gegen die Zukunft“, dass alle Forderungen nach mehr Partizipation und Rechten, wie die zivilen Rechte im 18Jh., die politischen im 19Jh. und die sozialen im 20Jh. immer virulente Gegenreaktionen hervorriefen. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob gestandene Politiker, nicht nur in Frankreich, überhaupt eine partizipative Demokratie wollen.

Royal hatte bei ihrem Vorschlag der Bürgerjurys noch einen ganz entscheidenden Punkt hinzugefügt. Nachzulesen in der Tageszeitung Le Monde vom 18. November 2006: „ (…) C’est pourqoui je pense qu’il faudra clarifier la façon dont les élus pourront rendre compte, à intervalles réguliers, à des jurys citoyens tirés au sort.(…)“.

Bürgerjurys durch das Los bestimmt, auf den ersten Blick unvorstellbar, dass so etwas funktionieren könnte. Kann man in der heutigen Politik überhaupt das Los zur Hilfe nehmen?

So unüblich sind Losverfahren in der Geschichte nicht. Es gab sie in der athenischen Demokratie, es gab die „sortitio“, also das Losen in der römischen Republik, die Stadtrepubliken Florenz und Venedig hatten ausgefeilte Losverfahren um zu Entscheidungen zu gelangen. Mit der amerikanischen und französischen Revolution verschwand langsam die Tradition des Losens zur Entscheidungsfindung. Diese Revolutionen führten das Prinzip der repräsentativen Demokratie ein. Die aktive Beteiligung und das Einmischen der einfachen „citoyens“ waren hingegen weniger gefragt.

In den Demokratisierungsprozessen des 18.Jh. und 19 Jh. ging es um allgemeines Wahlrecht, nicht mehr um das Auslosen von Ämtern und Positionen.

Die überschätzten Meinungsumfragen.

Dass Bürger trotzallem nach dem Zufälligkeitsprinzip ausgesucht werden um gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu erforschen und so zu belegen, gibt es häufiger als so manchen bewusst ist. 1824 wurde die erste politische Meinungsumfrage von einer lokalen Zeitung im amerikanischen Harrisburg (Pennsylvania) durchgeführt, der eigentliche Triumphzug dieser Umfragen begann aber erst 1936.

Seitens der Zeitschrift „Literary Digest“ wurde eine sogenannte „ballot poll“ veranstaltet. Das Prinzip einer solchen „Strohumfrage“ war seit über 100 Jahren gleich. Möglichst viele Fragebögen wurden wahllos in Umlauf gebracht um eine vermeintliche Voraussage zu tätigen. 1936 ging es um die Vorhersage wer den nun der zukünftige amerikanische Präsident würde. Trotz annähernd 20 Millionen Postkarten-Stimmzettel, die vom „Literary Digest“ auswertet wurden, lag die Voraussage für den Wahlausgang verheerend falsch. Im Gegenzug veranstaltete das Gallup-Institut mit etwa 4000 Stichproben-Interviews, eine eigene Prognose. Mit einer Fehlerrate von 1% tippte Gallup auf den richtigen, nämlich Franklin D. Roosevelt. Aufgrund einer Umfrage bei einem repräsentativen Querschnitt der Wähler, konnte das Meinungsforschungsinstitut diese Prognose abgeben. Dass dieser repräsentative Querschnitt in seiner definitiven Zusammensetzung auch durch eine Art Zufallsprinzip zustande kam, dürfte jedem einleuchten.

Heute gibt es Umfragen zu allen möglichen und unmöglichen Themen. Politische Parteien richten ihre Strategie nach Umfragen aus, kommunale Vertreter lassen sich oft durch Umfragen in ihrer praktischen Politik beraten. Meinungsumfragen sind zu einem wichtigen Bestandteil unserer Politik geworden. Aber sind sie ein Mittel partizipativer Demokratie?

Hubertus Buchstein, Professor für politische Theorie und Ideengeschichte, ist überzeugt, dass erst das Jahr 1968 der Beginn einer Reformperspektive für unsere Demokratie darstellt. In jenem Jahr wurden die Juroren für die Geschworenengerichte in den USA nicht mehr über Auswahl, sondern durch ein ganz bestimmtes Lossystem ermittelt. Die Juroren bildeten durch dieses Auswahlsystem „a fair cross section of the community“.

Die Beteiligten an Umfragen und die Juroren der Geschworenengerichte werden nach einem wissenschaftlich korrekten Querschnitt, letztendlich aber durch Zufall oder Los ermittelt. Warum aber sieht Buchstein denn die Prozedere um die Gerichtsjuroren als Reformperpektive für unsere Demokratie an? Der Professor an der Universität Greifswald sieht in den Meinungsumfragen einen wesentlichen Schwachpunkt. Bei Umfragen werden Bürger mit Antwortoptionen konfrontiert und das aus ihren Reaktionen gebildete Ergebnis, wird als Ausdruck des Bürgerwillens präsentiert. Derartige Umfragebefunde sind keine echten politischen Willensäusserungen, sondern eine ganz momentane Stimmungssituation, die ohne langes Nachdenken zustande gekommen ist. Für politische Entscheidungen dürften solche Umfragen eigentlich keine Bedeutung haben.

Die Auswahlverfahren der amerikanischen Geschworenenjuroren und besonders die grosse Qualität der dort getätigten Deliberationen, also der Diskussionen und Beratungen sowie das Austauschen von Meinungen machten dieses Modell so interessant und zum Vorläufer verschiedener Projekte partizipativer Demokratie.

Pierre Mendès France schlug 1962 in seiner Veröffentlichung « La République moderne » die Einführung einer partizipativen Demokratie vor: « La démocratie ne consiste pas à mettre épisodiquement un bulletin dans une case, à déléguer les pouvoirs à un ou plusieurs élus, puis à se désintéresser, s’abstenir, se taire pendant cinq ans. Elle est action continuelle du citoyen et requiert à ce titre sa présence vigilante. »

Kann dies in einer Kommune funktionieren? Welche Modelle sind denk- und machbar? Eine kommunalpolitische „Träumerei“ in einem nächsten Beitrag.

Raymond Becker

Präsident der Intra Muros asbl

Echternach

Tageblatt 26/27.6. 2009