Mehr Demokratie wagen:
Mut zur Innovation!
„Leute, redet miteinander! Überlasst Politikern und Lobbyisten nicht die Deutungshoheit, mischt euch ein, seid radikal.“ Jürgen Habermas
Der amerikanische Präsident Abraham Lincoln hat in seiner wohl berühmtesten Rede der „Gettysburg Address“ am 19. November 1863 in ganzen 272 Worten ein Demokratieverständnis geprägt, das bis zum heutigen Tage vielerorts als Definition einer demokratischen Staatsform angesehen wird. Lincoln beschwört die Freiheit und eine Demokratie, in dem das Volk, die Bürger eine entscheidende Rolle spielen.
Es wäre nun aber nicht angebracht, Lincoln in die Nähe partizipatorischer Demokratieformen zu rücken, aber sein Verständnis betreffend die Souveränität eines Volkes, kann heute noch als Impuls zum Nachdenken über die repräsentative Demokratie anregen.
Um allen Missverständnissen bei nachfolgenden Gedankengängen vorzubeugen: Es geht nicht um die Abschaffung der repräsentativen Demokratie. Es geht um Elemente von konkreter Bürgerbeteilung, von partizipativer Demokratie, die das heutige System vervollständigen und stärken. Es geht darum, ob wir es schaffen den Bürgern Lust auf Politik zu vermitteln. Es geht darum, ob wir einen aktiven, politisch bewussten, einen mündigen Bürger eigentlich wollen.
Partizipative Demokratie gelingt nur, wenn die politisch relevanten Debatten über die Zirkel der üblich „Verdächtigen“ hinausgehen. Politische Parteien sind längst nicht mehr der Ort des gesellschaftlichen Lebens der Bürger; Politiker, kommunal wie national, entscheiden oft untransparent im stillen Kämmerlein; Lobbyisten berieseln die Öffentlichkeit mit vorgefassten Meinungen; die engagierte Zivilgesellschaft steht oft ohne Netzwerk allein auf weiter Flur; der Bürger sieht sich überfordert und wendet sich ab.
Wie können wir es nun schaffen, Diskussionen die unser aller Lebensumfeld betreffen, öffentlicher, transparenter und spannender zu gestalten? Wie können Bürger sich ernstgenommen fühlen und sich bewusst in die politische Meinungsbildung einmischen?
Das Los wie im Tageblatt vom 26. und 27. Juni erörtert, könnte hierfür Wegweiser sein.
4 Modelle mit Losentscheid oder Zufallsprinzip.
Die Idee Losentscheide im politischen Alltag wiedereinzuführen, wurde 1969 durch Peter Dienel in Deutschland und 1971 durch Ned Crosby in Amerika, fast zeitgleich in die Wege geleitet.
Peter Dienel bedrückten die Muster politischer und bürokratischer Entscheidungsprozesse. Ihm missfielen die üblichen Debatten um Probleme zu lösen. Er vermisste das Denken in langfristigen Kategorien, oft gingen die politischen Überlegungen nicht über den nächsten Wahltermin hinaus. Hinter verschlossenen Türen wurde entschieden, eine Beteiligung von Bürgern war fast unmöglich. Für ihn war die rein repräsentative Demokratie nicht mehr funktionsfähig.
Dienel schlug aus dieser Erfahrungslage das Modell einer Planungszelle vor. Eine Planungszelle hat zum Auftrag, zu einem vorgegebenen Thema, ein Bürgergutachten zu erstellen. Nach Dienel’s Modell treffen sich während 4 Tagen, 25 nach einem Losverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger. In ständig wechselnden Arbeitsgruppen erarbeiten sie gemeinsam als Planungszelle ein Gutachten, für ein als schwer zu entscheidendes politisches Dossier vor. Hilfestellung erhält die Gruppe von Prozessbegleitern und Experten. Erstere sind für den organisatorischen Ablauf zuständig; die Experten stellen den Teilnehmern ihre fachlichen Überlegungen oder die Sichtweise ihrer Interessenposition zum Thema dar. Sie stehen dann während des ganzen Prozesses für Rückfragen aus der Planungszelle zur Verfügung.
Das Verfahren Planungszelle hat in vielen Ländern zu teils überraschenden und sehr guten Ergebnissen geführt. Als Paradebeispiel wird der Bau der Autobahn „Urbina-Maltzage“ im spanischen Baskenland angeführt. Das von verschiedenen Planungszellen erstellte Bürgergutachten, wurde von der Bevölkerung akzeptiert und der Bau wurde problemlos durchgeführt.
Für Dienel war immer klar, dass die Benutzung seines Modells zu einer völlig neuen politischen Kultur führen wird.
Fast zeitgleich entwickelte Ned Crosby seine Vorstellungen einer Bürgerjury. Crosby nahm als Grundlage das Modell der Geschworenengerichte in den USA. Diese Mitglieder wurden wie im Tageblatt vom 26. und 27. Juni beschrieben, durch Los ermittelt.
1985 trafen sich Dienel und Crosby zum ersten Mal persönlich. Amüsiert stellten sie fest, wie ähnlich ihre fast zeitgleich aber völlig unabhängig voneinander, entwickelten Modelle seien.
Die wohl interessantesten Projekte von Bürgerjurys wurden zwischen 2001 und 2003 im Rahmen eines Pilotprojektes in Berlin durchgeführt. In 17 ausgewählten Stadt-Quartieren wurde einer jeweiligen Bürgerjury 500.000€ zur freien Verfügung gestellt um ganz gezielte, sehr oft soziale Projekte in ihrem Quartier durchzuführen. Sogenannte Quartiersmanager unterstützten die Bürgerjurys in der Durchführung der gesamten Projektphase. Die Zusammensetzung dieser Jurys in den einzelnen Quartieren, erfolgte zur Hälfte durch Los, die restlichen Mitglieder stammten aus organisierten oder engagierten Bürgern. Im Gegensatz zu Dienel’s Planungszelle arbeiteten die Bürgerjurys über einen längeren Zeitraum und sie hatten Entscheidungsbefugnis im Rahmen ihres Kompetenzbereiches. Aus diesen Bürgerjurys entstanden nach 2003, in 33 Berliner Quartieren interessante partizipative Initiativen die ihre Arbeitsweise an die Bürgerjurys anlehnten.
Ned Crosby’s Modell wird in weiteren Ländern wie Spanien, Amerika und besonders in Großbritannien zu den verschiedensten Themen erfolgreich praktiziert.
Eine Variante zu der Planungszelle und den Bürgerjurys ist die Konsensuskonferenz. Die Idee stammt aus den USA. Aufgrund grundlegender Probleme im Gesundheitswesen, gelangte man Mitte der siebziger Jahre zur Einsicht, Wissenschaft und Praxis miteinander ins Gespräch zu bringen. Die dänische Behörde für Technikfolgeabschätzung entwickelte 1987 das Modell zu etwas Besonderem: Sie führten diese Konferenzen nicht mit Fachleuten, sondern ausschließlich mit Laien durch. In diesen Prozessen ging und geht es der dänischen Behörde darum, die Technologieentwicklung zu demokratisieren. Die Teilnehmer an diesen Konsensuskonferenzen wurden zwar nach einem repräsentativen Querschnitt, aber im Endeffekt durch Zufall ermittelt. Allein in Dänemark fanden bis heute etwa 30 dieser Laien-Konferenzen statt.
Dass Meinungsumfragen eigentlich kein Mittel der Politikgestaltung sein dürften, sollte einleuchten. Oft ist dies aber nicht der Fall. Als Reaktion zu den Meinungsumfragen (sondages d’opinion) entwickelte James Fishkin das Deliberationsforum (sondages délibératifs). Seine Grundidee war eigentlich einfach und verständlich. In diesem Forum wird ein repräsentativer Querschnitt der Wähler nach Zufallsentscheidungen zusammengesetzt. Die Teilnehmer beginnen ihr Forum mit dem Ausfüllen eines Fragebogens zu dem zu behandelnden Thema. Hier legen sie ihre Meinung wie bei einer Meinungsumfrage ohne Diskussionsmöglichkeiten fest. Nun beginnt aber erst der entscheidende Punkt. Die Gruppe wird nun in das zu deliberierende Thema durch ausgewogene Stellungnahmen seitens verschiedener Experten eingeführt. Dieser Einstieg erfolgt völlig ausgewogen. In einzelnen, immer wieder wechselnden Kleingruppen, erhalten nun die Teilnehmer die Möglichkeit sich über das Thema auszutauschen und weiter Experten zu befragen. Zum Abschluss eines solchen Deliberationsforums erhalten die Teilnehmer denselben Fragebogen wie am Anfang des Prozesses. Die Abweichungen zu der ersten Befragung sind nachweisbar sehr groß. Das sich gemeinsame Austauschen zeigt immer Wirkung. Das Deliberationsforum hat den Vorteil, dass die erzielten Resultate wesentlich näher an der Meinung einer Gesellschaft sind, als die klassischen Meinungsumfragen. Für Fishkin ist sein Modell der Versuch einem partizipativen Demokratieverständnis sehr nahe zu kommen. Bürger einer Kommune wären gut informiert und könnten sich aktiv am politischen Leben beteiligen.
Den Versuch wagen.
Die kommunale und regionale Ebene ist prädestiniert, neue Formen einer aktiven Bürgerbeteiligung in die Wege zu leiten. Als regionale Ebene könnten beispielsweise die Leader+ Regionen in Betracht gezogen werden.
Was könnten nun diese Modelle und der im Tageblatt vom 15. und 16. Juli schon vorgestelltem Bürgerhaushalt für eine Kommune und eine Region bedeuten?
Vorneweg, falls eine Kommune oder eine Region sich in das spannende Abenteuer „partizipative Demokratie“ wagt, wäre eine wissenschaftliche Begleitung mehr als angebracht. Der Abschlussbericht würde spektakuläre Resultate vorweisen.
Das ganze müsste mit einer Bestandsaufnahme beginnen. Wie verhält sich der Bürgermeister zu seinen Schöffen, wie der Schöffenrat zum Gemeinderat, wie der Gemeinderat zu den Gemeindekommissionen? Eigentlich weiß jeder, dass mit wenigen Ausnahmen hier verheerende Demokratiedefizite bestehen. Wie bilden sich politische Gruppierungen ihre Meinung, gibt es überhaupt einen strukturierten Diskussionsprozess innerhalb einer solchen Gruppe? Wie ernst werden die seitens der Bürger anlässlich dieser oder jener öffentlichen Versammlung vorgebrachten Argumente behandelt? Oder werden diese Versammlungen nur wegen der politischen Gewissensberuhigung durchgeführt? Hier gibt es schon von Kommune zu Kommune sichtbare Unterschiede.
Aber der Einstieg in die partizipative Demokratie würde dies alles sprengen.
Eine Wahlurne alle 6 Jahre reicht nicht, um Bürger stärker für die Kommunalpolitik zu interessieren. Die fast ausschließlich nach Parteienproporz oder nach dankendem Gutdünken besetzten Gemeindekommissionen, werden der Aufgabe nach partizipativer Demokratie nicht gerecht. Diverse kommunale Informationsversammlungen sind auch nicht das geeignete Mittel.
Die politische Arbeit eines Gemeinderates kann nicht nur mit ein paar Kreuzchen bei anstehenden Wahlterminen gewertet werden. Um dies konsequenter zu bewerkstelligen wäre eine Bürgerjury ein geeignetes Mittel. Aufgrund der Listen des Einwohnermeldeamtes würde jährlich durch Losentscheid eine repräsentative Bürgerjury bestimmt. Diese hätte die Aufgabe die jeweilige Jahresarbeit des Gemeinderates zu bewerten. Als Grundlage würden die sogenannte Schöffenratserklärung und der jährlich verabschiedete Finanzhaushalt dienen. Die Bewertung würde in einem schriftlichen Bericht veröffentlicht. Dies hätte eine Reihe positiver Gegebenheiten. Durch den jährlichen Wechsel der Bürgerjury würde eine hohe Zahl von Bürgern konkret in die Gemeindepolitik eingebunden. Der Gemeinderat hätte durch einen jährlichen Bürgerbericht eine gute Analyse ihrer Arbeit. Mehrheit und Opposition im Gemeinderat könnten hiervon profitieren.
Was wäre spannender als selbst als Bürger an der eigenen Zukunftsgestaltung mitwirken zu können. Ein Bürgerhaushalt wäre hierfür ein geeignetes Mittel. Bürger würden über die Vergabe öffentlicher Mittel zur Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur entscheiden. Eine Kommune stellt jährlich eine feste Summe zur Verbesserung der Infrastruktur bereit. Die Kommune gibt ebenfalls jährlich einen gewünschten Rahmen, beispielsweise Grünflächen und Spielplätze, vor. Es erfolgt ein Aufruf an die lokale Bevölkerung sich ab 16 Jahren beim jährlichen Bürgerhaushalt zu beteiligen. 15 bis 24 Teilnehmer wären wünschenswert. Es sollte versucht werden die Gruppe repräsentativ für die Gemeindebevölkerung zu gestalten. Bei mehr Bewerbern entscheidet das Los über die definitive Zusammensetzung. Der entstehende Effekt wäre wie bei der Bürgerjury ähnlich.
Die Gemeinde Echternach tätigte vor Monaten eine repräsentative Umfrage um zu erfahren, was denn nun die Bürger für eine Meinung über eine eventuelle Schließung des Marktplatzes für den Autoverkehr während den Sommermonaten hätten. Aufgrund dieser klassischen Meinungsumfrage, wurde dann eine vermeintliche Meinung extrapoliert. Es stellt sich die berechtigte Frage ob ein Deliberationsforum nicht die geeignetere Form zur Meinungsfindung gewesen wäre. Eigentlich wäre sie es heute noch. Die jährlichen Entscheidungen des Gemeinderates zu diesem Thema sind jedenfalls alles andere denn konsequent.
Ein Deliberationsforum wäre bei kontroversen Diskussionen hinsichtlich eines geplanten Projektes eine gute Hilfestellung für einen Gemeinderat.
Bürger für das Einmischen in kommunale Angelegenheiten zu begeistern, bedarf gezielter und konsequenter Schritte, sie nun auch noch für regionale Fragestellungen zu motivieren, bleibt eine weitere Herausforderung.
Innerhalb der Grenzen einer Kommune können nicht alle Probleme optimal gelöst werden. Den Bürgern einer Region die Bedeutung einer Zusammenarbeit zu vermitteln, um somit eine gezieltere Aufwertung des täglichen Lebens zu erreichen, wäre ein Versuch über das Modell der Planungszellen wert. Ein passendes Thema wäre überall die Mobilität. Wie kann man in einer Region eine bessere, umweltschonendere Mobilität erreichen? Das aus einer Planungszelle entstehende Bürgergutachten würde ganz sicher innovative und interessante Vorschläge in die Debatte bringen.
Diese „Träumerei“ von einzelnen Ansätzen einer kommunalen partizipativen Demokratie, wäre es so oder so ähnlich Wert, in einem Versuch umgesetzt zu werden. Als ehemaliger Kommunalpolitiker ist Unterzeichnender aus Erfahrung überzeugt, dass Bürger zu einem Engagement zu bewegen sind. Sie wollen nur Ernst genommen werden und sich in klaren, transparenten Strukturen einbringen.
Also, etwas Mut zur Innovation. Lasst die Bürger sich außerhalb der Wahlkabinen nach Habermas „einmischen“. Die gute Entwicklung einer Kommune und einer Region wären das Resultat. Bewusste und engagierte Bürger würden es sicher in den Wahlkabinen würdigen.
Raymond Becker
Präsident der Intra Muros asbl
Echternach
Tageblatt 8/9. 7.2009