Françoise Kuffer – Raymond Becker
Artikel im Rahmen der Ausstellung “Armes Luxemburg?”
http://www.musee-hist.lu/de/Armes+Luxemburg+_-p-321490.html
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‚Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. (…) daß sobald eine Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volkes ist, sie zu verändern oder abzuschaffen (…).’
Auszug aus der ersten deutschen Übersetzung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776.
Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler weist zu Recht auf diesen revolutionären Text hin und unterstreicht, dass die Formulierungen stark vom Philosophen Jean-Jacques Rousseau geprägt wurden. Im Gesellschaftsvertrag aus dem Jahre 1762, schreibt Rousseau: ‚Das persönliche Glück ist das erste Lebensziel aller Menschen. (…) Die einzige Instanz, die es zu beachten gilt, ist die himmlische, unsterbliche Stimme des eigenen Gewissens.’
Die in der Philosophie immer wieder gestellte Frage nach dem Glück, eine uralte Menschheitsfrage also, hat an Brisanz und Aktualität nichts eingebüßt.
Wie steht es also mit dem „Streben nach Glückseligkeit“ in unseren industrialisierten Ländern? Macht unser Reichtum wirklich glücklich oder verarmen wir nicht auch auf bestimmte Weise kulturell, emotional, geistig in einer auf Massenkonsum, Egoismus und Spaß ausgerichteten Gesellschaft? Was sagt uns die von Rousseau erwähnte „einzige Instanz“, die es in diesem Streben zu beachten gilt? Wie steht es mit dem „Bestreben nach Glückseligkeit“ als einem „unveräußerlichen Recht“ aller Menschen, also auch der untersten Milliarde Menschen, die total chancenlos dahinvegetieren? Kann man überhaupt auf Kosten anderer seinen Reichtum erhalten und genießen? Darf man ein Wirtschaftssystem erhalten, das Armut schafft, ja, sich von Armut und Ausbeutung nährt?
Der Philosoph Charles Taylor nennt den Kapitalismus einen „faustischen Pakt“ und schreibt: ‚Ohne wirtschaftliche Entwicklung können wir nicht leben. Aber gleichzeitig droht die entfesselte Ökonomie, unsere ökologischen und kulturellen Grundlagen zu zerstören.’
Diesen Teufelspakt müssen wir brechen, wenn wir eine bessere Zukunft anstreben.
Macht Konsum glücklich?
Der Konsummotor in den industrialisierten Ländern brummt wieder, mit Wohlwollen beäugt man die Steigerungen an den Börsen, die weihnachtlichen Umsätze schnellten 2010 in überraschende Höhen. So hat die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte in ihrer jährlichen „Christmas Survey“-Umfrage errechnet, dass der Luxemburger im Durchschnitt 1.200 € für Weihnachtseinkäufe zur Verfügung hatte, ein absoluter Spitzenwert in den 19 Ländern, die an der Analyse teilnahmen.
Wie hierzulande wächst allenthalben wieder der Konsum. Die Wochenzeitung Der Spiegel titelte in seiner Ausgabe vom 13.12.2010, dass wir einer Art „Weltreligion Shoppen“ fröhnen. Die Wochenzeitschrift macht in diesem Zusammenhang einen interessanten Vergleich: Mekka zog im Jahre 2010 etwa 12 Millionen Pilger an – an die 7 Millionen Shopping-Touristen gab es allein in Dubai. Die Autoren Martin U. Müller und Thomas Turma bringen es zugespitzt auf den Punkt indem sie argumentieren: ‚Konsum ist fast schon eine Weltreligion geworden. Der – man kann sagen – „Shoppismus“ liefert für jeden Geschmack und jeden Lebensentwurf die adäquaten Altäre und Heiligtümer. Er eint, er verspricht schnelle und schlichte Belohnungen. Und letztlich schafft er sogar Identität: Bin ich Mercedes oder BMW, Aldi oder Lidl, Gucci oder Prada, Puma oder Adidas, Tchibo oder Starbucks, Zegna oder Hugo Boss?’
Die Autoren übertreiben keineswegs mit ihrem Vergleich zu den Altären und Heiligtümern. Sie weisen aufgrund ihrer Recherchen eindeutig nach, dass bekannte Produkte die absolut gleichen Regionen des Hirns stimulieren wie religiöse Gefühle. Es wird gar noch unglaublicher, wenn man Folgendes bedenkt: Markenberater wie Martin Lindström stellen bei allen großen Weltreligionen gleiche Säulen fest, auf denen das Glaubensbekenntnis fußt: Geheimnisse, Symbole, Rituale, die Gemeinschaft oder Visionen. Für Lindström sind dies alles Elemente, die auch in der Vermarktung eines Produktes eine wesentliche Rolle spielen.
Die Werbung scheint uns demnach so zu manipulieren, dass wir im Konsum Religionsersatz, Identität und Glückseligkeit suchen. Aber was ist das für eine „Glückseligkeit“, die wir im Massenkonsum suchen und vielleicht auch finden? Ist das unser ganzer Reichtum?
Ein „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“
Der amerikanische Präsident George W. Bush brachte eine gefährliche Denkweise auf den Punkt, als er bei seinem Nein zum Kyoto-Klimaprotokoll erklärte: ‚Unsere Ablehnung beruht auf dem gesunden Menschenverstand, der uns sagt, dass dauerhaftes Wachstum der Schlüssel zum Fortschritt auch in Umweltfragen ist.’ Das verbindliche Abkommen, das von 2005 bis 2012 in Kraft ist, regelt erstmals völkerrechtlich verbindliche Zielwerte für den Ausstoß von Treibhausgasen in den Industrieländern. Für Bush und seine Adepten ein unerhörter Eingriff in die Logik der sogenannten freien Marktwirtschaft, ein Eingriff in das Selbstverständnis unseres heutigen Wirtschaftssystems.
Als Mainstream in der heutigen Politik gilt Wachstum als der Schlüssel zu allem. In Deutschland beispielsweise propagierte man allen Ernstes ein „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ mit knapp bemessenen Komponenten für die Ökologie. Hauptsache Wachstum! Hier denken Politiker so, wie es der Kabarettist Volker Pispers überspitzt formuliert: ‚Ein zu kühles Konsumklima ist für die Menschen sehr viel gefährlicher als ein zu heißes Wetter oder Weltklima. Wenn der Meeresspiegel steigt, ist das nur halb so schlimm, als wenn der Autoabsatz sinkt.’
Werbung treibt den Konsum an, starker Konsum bringt Wachstum, starkes Wachstum schafft Arbeitsplätze, Arbeitsplätze stehen für eine florierende Wirtschaft, wirtschaftliche Wachstumsraten garantieren Wohlstand, Wohlstand bringt Fortschritt, Fortschritt löst irgendwie alle anfallenden Probleme. Nur peinlich, dass genau dieses Denkschema uns in eine desolate Situation führte.
Es scheint so, dass unser Wirtschaftssystem den wohl radikalsten Weg des Konsumierens verfolgt, den der amerikanische Einzelhandelsanalyst Victor Lebow in einem Artikel Price Competition in 1955 formulierte: ‚unsere enorm produktive Ökonomie (…) verlangt [von uns], dass wir den Konsum zu unserem Lebensstil machen, dass wir den Kauf und Verbrauch von Gütern in ein Ritual verwandeln, dass wir unsere spirituelle Befriedung und unsere Selbstbestätigung im Konsum suchen (…) Wir müssen Dinge verbrauchen, verbrennen, abnutzen, ersetzen und ausrangieren und das in ständig steigendem Ausmaß.’
Für den amerikanischen Historikers Gary Cross ist der „Konsumismus“ der Sieger der ideologischen Kriege des 20. Jahrhunderts. In seinem Buch An all Consuming Century verfolgt er die These, dass es nicht so sehr der Kapitalismus und die Demokratie waren, die sich gegenüber dem Kommunismus durchsetzten, sondern ganz einfach die Möglichkeit des Massenkonsums in unserem Gesellschaftssystem.
Weg vom Fetisch blindes Wachstum!
Wenn der zitierte Rousseau Recht hat und das Streben nach Glück das Lebensziel aller Menschen ist, muss die Frage erlaubt sein, ob das von Wirtschaft und Politik immer wieder als oberstes Ziel dargestellte Wachstum uns tatsächlich glücklich macht. Ist dieses blinde Wachstum gleichbedeutend mit Fortschritt, Wohlstand oder gar Glückseligkeit?
Wir messen Wachstum bekanntlich am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das BIP ist nichts weiter als die Summe der Preise für alle Waren und Dienstleistungen innerhalb der Landesgrenzen. Ob wir nun Niedrigenergiehäuser bauen oder Autobahnen, ob wir Komasaufen oder danach unsere Leber- und Kreislaufschäden behandeln, es fließt Geld und wirkt sich positiv auf das Wachstum aus.
Wohlstand und Glück lassen sich schwer messen. Es ist sicher falsch, sie am blinden Wirtschaftswachstum messen zu wollen. Aber auch alternative Berechnungsmodelle des Wohlstandes stimmen darin überein, dass ‚die glücklichsten Menschen (dort) leben, wo es ihnen materiell gut geht’ (Fachmagazin Ökotest). Die zweite Feststellung des Fachmagazins ist allerdings interessanter und für manche sicher überraschend: ‚Ab einem gewissen materiellen Wohlstand macht Geld nicht glücklicher.’ Andersrum: Ab einem bestimmten Niveau hat wirtschaftliches Wachstum nichts mehr mit Wohlstand und Glückseligkeit zu tun.
Hier setzen die Thesen des Sozialwissenschaftlers Meinhard Miegel an, der nachweist, dass unser heutiges Wachstum den Wohlstand nicht mehrt, sondern auf teils dramatische Weise verzehrt. Wollen wir einen Rest unseres Wohlstandes behalten, müssen wir schnellstmöglich weg vom Wachstumsfetichismus.
Wachstum auf Kosten anderer und der Umwelt, Wachstum aufgebaut auf endlichen Ressourcen wie Öl, ist in der Tat zu einem gefährlichen Fetisch geworden.
Wachstum aufgebaut auf endlichen Ressourcen oder „Eine Entziehungskur für den Öl-Junkie“
Der Kanadier Jeff Rubin gilt zurzeit als einer der gefragtesten Wirtschaftsexperten. In seinem brillanten Buch Warum die Welt immer kleiner wird – Öl und das Ende der Globalisierung, rüttelt Rubin den Leser mit pointierten Realitäten wach. Mit entwaffnender Offenheit untermauert er die Thesen von der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und den Grenzen des Wachstums.
Warum können wir uns überhaupt schon zum Frühstück exotische Früchte gönnen, in Restaurants Shrimps aus Bangladesh schlemmen, mit dem Geländewagen mal kurz zum Bäcker fahren, uns immer billigere Computer leisten, mal kurz nach London oder Mailand zum Shoppen jetten oder zu Spottpreisen in entlegene Erdteile reisen?
Warum können wir mittlerweile auch im Hochsommer in überdeckten Hallen Skifahren? Schneekanonen machen alles möglich. Das Monatsmagazin Ökotest rechnete in seiner März-Ausgabe 2010 vor, dass die über 3.000 Schneekanonen in Europa in jedem Winter soviel Energie verbrauchen, wie eine Stadt mit 150.000 Einwohnern und soviel Wasser wir die Millionenstadt Hamburg in einem Jahr.
Zurück zu Rubin und der Frage, warum wir uns all diese „Freiheiten“ herausnehmen können: „Allein wegen dem billigen Öl!“
Die Abhängigkeit vom Erdöl treibt die Weltwirtschaft schon jetzt in einen Kreislauf immer wiederkehrender Rezessionen. Die Nachfrage nach dem „schwarzen Gold“ steigt, das Angebot nicht. Auch wenn konservative Ökonomen was anderes verkünden und Politiker dies mit kurzem Blick auf nächste Wahltermine nachplappern, der Kanadier ist unerbittlich: Es quillt immer weniger Öl aus der Erde und die Qualität wird immer schlechter. Die Kosten für die Verbraucher werden massiv steigen. Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, wird bei explodierenden Erdölkosten nicht mehr möglich sein.
Für den kanadischen Wirtschaftsjournalisten ist eines ganz klar: ‚Wir sollten nicht nur unsere Wirtschaft vom Öl abkoppeln, sondern auch unseren Lebensstil ändern, um ihn an eine Welt zunehmender Energieknappheit anzupassen. Das bedeutet, dass wir lernen müssen, weniger Energie zu verbrauchen. (…) Und es wäre nicht überraschend, wenn die sich abzeichnende neue kleinere Welt viel lebenswerter und erfreulicher wäre als die, die wir im Begriff sind, hinter uns zu lassen.’
Wir werden wohl in Zukunft weniger konsumieren können. Wer Glück und Reichtum allein über Konsum definiert, riskiert in dieser „neuen kleineren Welt“ arm dazustehen.
Wachstum auf Kosten der Umwelt oder ein Wirtschaftsmodell als „Selbstmordpakt“
Es gibt noch einen anderen, dramatischeren Grund, der uns zum Umdenken zwingt: Der Zustand unserer Umwelt, der Umwelt auch, die wir unseren Kindern hinterlassen werden.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bezeichnete auf dem rezenten Weltwirtschaftsforum in Davos das aktuelle Wirtschaftsmodell in Bezug auf die Umwelt als „globalen Selbstmordpakt“. Wir müssen nachhaltiger wirtschaften, wir brauchen einen „Global Green New Deal“, einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, wie ihn das United Nations Environment Programme (UNEP) vorschlägt. Warum?
Die NASA und die amerikanische Ozean-Atmosphärenbehörde sind in ihren Aussagen die globalen Wetterdaten betreffend unmissverständlich: 2010 war das wärmste und regenreichste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen Mitte des 19. Jahrhunderts. Klimaforscher weisen nach, dass wir in den letzten hundert Jahren eine mittlere Temperaturerhöhung von 0,7 Grad Celsius zu verzeichnen hatten. Selbst wenn wir sofort einen totalen Emissionsstopp zu verzeichnen hätten, wird eine weitere Erwärmung von 0,6 Grad erfolgen. Als gefährliches Niveau für die Erde gilt eine Erwärmung um 2 Grad. Wenn wir aber so weitermachen wie bisher, wird die Temperatur in den nächsten hundert Jahren um weitere 5 Grad ansteigen. Wo liegt dann die Grenze der menschlichen Anpassungsfähigkeit? Was tun – wenn wir jetzt nichts tun – in einigen Jahrzehnten bei immer häufiger auftretenden Wetterextremen wie Kälte, Hitze, Regen, Dürre oder Sturm? Was tun – wenn wir jetzt nichts tun – mit den Millionen von Klimaflüchtlingen die wir dann weltweit haben werden? Die katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan und Australien, die horrende Dürreperiode in Russland, sind nur ein paar Beispiele die zeigen, dass in einer sich erwärmenden Welt Klimaextreme häufiger und stärker auftreten. Es gibt nichts zu deuteln. Beim Thema Erderwärmung gibt es einen überwältigenden wissenschaftlichen Konsens: Der Mensch verursacht den starken Anstieg der globalen Erderwärmung.
Der Living Planet Report der Umweltstiftung World Wildlife Fund (WWF) war in seinem Bericht 2010 äußerst klar: ‚Die Menschheit lebt über ihre Verhältnisse. Wir verlangen mehr, als die Erde uns bieten kann.’ Wir überlasten massiv unsere dringend benötigten Ökosysteme, wir fügen unseren Langzeitsystemen wie Wäldern, Meeren oder Ackerböden schwere Schäden zu, wir sind verantwortlich für den Schwund von genetischer Vielfalt und biologischem Reichtum.
Das bekannte Netzwerk Global Footprint errechnet jedes Jahr den fiktiven Tag, an dem wir unser ökologisches Budget für das ganze Jahr konsumiert haben. Dieser „World Overshoot Day“ war 1987 am 19. Dezember, 1995 am 21. November, 2006 am 9. Oktober und 2010 bereits am 21. August. Das bedeutet, dass wir mehr Ökodienstleistungen – Wasser, Holz, Brennmaterial, frische Luft, Fische, Getreide usw. – verbrauchen, als die Natur bereitstellt und dass wir munter dabei sind, unser ökologisches Kapital und das ökologische Kapital unserer Kinder zu verbrauchen.
‚Um die Nachfrage nach Nahrung, Energieträgern und anderen natürlichen Rohstoffen zu decken, bräuchte man schon jetzt einen zweiten Planeten’, so die Experten der WWF in ihrem Living Planet Report.
Wachstum auf Kosten anderer oder „Denn wir wissen was wir tun.“
Unsere Weltordnung lässt alle 5 Sekunden ein Kind verhungern, alle 4 Minuten verliert ein Mensch das Augenlicht, weil er zu wenig Vitamin A bekommt, jeder 6. Mensch ist permanent schwerst unterernährt. Dabei hätte die heutige Weltlandwirtschaft die Möglichkeit, 12 Milliarden Menschen korrekt, also mit 2.700 Kalorien pro Erwachsenen/Tag zu ernähren. Der Schweizer Jean Ziegler spricht von einer „kannibalischen Weltordnung“, in der die multinationalen Konzerne die neuen Kolonialherren sind, brutaler noch als ihre Vorgänger zu Zeiten der französischen Revolution. Die meisten Politiker sind in seinen Augen nur die Handlanger dieser Konzerne und der Börsenspekulanten.
Die politisch Verantwortlichen der Euro-Zone haben in der Tat 2008 ohne Zögern einen Kreditrahmen von 1.700 Milliarden Euro zur Absicherung der Banken beschlossen und wenige Wochen später der Kürzung des Etats des UNO-Welternährungsprogramms von 4.100 Millionen Euro um 40% zugestimmt.
Ebenso macht der Weltverändererdenker der Wochenzeitschrift Die Zeit, der Philosoph Thomas Pogge eine unerbittliche, beschämende Rechnung: Mit der Hälfte des Geldes, das jüngst für die Rettung der Banken aufgebracht wurde, wäre der Hunger weltweit beseitigt. Für ihn sind wir ‚aktiv mitverantwortlich dafür, dass Armut fortbesteht, weil wir bei der Aufrechterhaltung von ungerechten Institutionen mitwirken, die vorhersehbar Armutsprobleme produzieren (…) Um ihre Gewinne zu maximieren, halten die nationalen und globalen Eliten Milliarden von Menschen in Armut und setzen sie Hunger und Infektionskrankheiten, Kinderarbeit und Prostitution, Menschenhandel und Tod aus.’
Immer wieder sieht sich die UNO-Behörde für Ernährung (FAO) veranlasst, die spekulativen Geschäfte mit Nahrungsmitteln anzuprangern. Immer noch und trotz der vielen Hungernden, werden Nahrungsmittel als Treibstoff verbrannt.
Was sagt sie nun dazu, Rousseaus ‚himmlische, unsterbliche Stimme des eigenen Gewissens’? Trauen wir uns da überhaupt noch von Moral zu reden, von Werten wie Solidarität und Menschlichkeit? Unweigerlich fällt einem hier ein Brecht-Zitat ein, das uns die Ärmsten der Armen, immerhin eine Milliarde Menschen, entgegen schleudern könnten: ‚Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben – Und Sünd und Missetat vermeiden kann – Zuerst müßt ihr uns was zu fressen geben – Dann könnt ihr reden: damit fängt es an. Ihr, die euren Wanst und unsre Bravheit liebt – Das eine wisset ein für allemal: – Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt – Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. – Erst muß es möglich sein auch armen Leuten – Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.’
Anders als bei einem der „Sieben Letzten Sätze“ Jesu Christi: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun’, wissen wir sehr wohl, was wir tun. Wir leben in einer Halligalli-Gesellschaft, die unbequeme Wahrheiten verdrängt. Solange jedenfalls sogenannte Promis in „Dschungelcamps“ für weitaus mehr Gesprächsstoff sorgen, als die horrenden, besorgniserregenden Überschwemmungen in Australien, unweit des Drehortes, deutet alles darauf hin.
‚Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker’ sagte einst Ernesto Che Guevara. Aber sind wir noch zu wahrer Solidarität fähig? Oder tun wir das, was Reiche schon immer getan haben und werfen lediglich unsere Brotkrumen den Armen hin? Sind wir noch zu Solidarität mit zukünftigen Generationen fähig, haben wir sie noch, die „Zärtlichkeit“, die Fürsorge, die Eltern für ihre Kinder haben? Oder sind wir tatsächlich so abgestumpft und verfahren nach dem Prinzip ‚Was kümmert mich die Nachwelt – hat sich die Nachwelt je um mich gekümmert?’ wie es der Entertainer Groucho Marx bitterböse formuliert?
Das Prinzip Hoffnung oder „Was ist ein gutes Leben“?
Man liest immer öfter, unsere Gesellschaft stehe an einem Scheideweg. Wir denken eher, dass wir gar nicht umhin können, ein Gegenmodell zur aktuellen zügellosen Konsumkultur zu entwickeln, ein Gegenmodell auch zu einem zügellosen Kapitalismus, der unsere Mitmenschen, unsere eigenen Lebensgrundlagen und diejenigen unserer Kinder rücksichtslos hypothekiert.
‚In dieser Gesellschaft brodelt es’ empfindet zu Recht der Soziologe Oskar Negt. Zum Glück wächst die Zahl derer, die wissen, dass es so nicht weiter gehen kann und die Zahl derer, die es einfach nicht mehr wollen oder nicht mehr ertragen und sich nach etwas Anderem, einer neuen Lebensqualität, sehnen.
Auch wenn vieles schief läuft und wir uns auf einem sehr gefährlichen Irrweg befinden, gibt es Grund zur Hoffnung. Es wäre falsch, in Pessimismus und Lethargie zu verfallen. Im Gegenteil. Wir sollten unsere Zukunft mutig und zuversichtlich angehen und konsequent eintreten für Veränderung, nicht für „immer mehr“, nein, im Gegenteil für „konsequent weniger, aber eben besser“. Schon der griechische Philosoph Epikur wusste: ‚Alles, was der Körper will, ist: Nicht frieren, nicht hungern, nicht dürsten. Alles, was die Seele will, ist: Nicht traurig sein, nicht Angst haben.’ Dieser Zustand führt zum Seelenfrieden und somit zur Glückseligkeit. Mit Luxus, Reichtum, Konsum und dergleichen hat das nichts zu tun.
Schließen möchten wir mit einer der Schlussthesen der bekannten Toblacher Gespräche, die in unseren Augen das Wesentliche so auf den Punkt bringt, dass dem nichts hinzuzufügen ist: ‚Am Ende dieses Jahrhunderts sind wir mit neuen Wahrheiten konfrontiert. Die Wahrheit über uns: Sparen. Die Wahrheit über die Natur: Uns begrenzen. Die Wahrheit über unser Verhältnis zur dritten Welt: Abgeben. Die Wahrheit über die zukünftigen Generationen: Teilen. Das zwingt uns, das rechte Maß der Dinge wiederzufinden. Wir müssen den Geschmack für langsamere Geschwindigkeiten, regionalisierte Märkte, lokales Handwerk, behutsame Güterausstattung gewinnen und ein neues Interesse auf die Kultivierung der Politik, der Freundschaft und des eigenen Selbst richten. Anzustreben ist eine Zivilisation, in der die Wiederentdeckung und Pflege der Schätze an religiöser, kultureller, ethischer und ästhetischer Überlieferung ebenso wichtig ist wie die Erhaltung der Wälder, der Tier- und Pflanzenarten, der Gewässer und Böden. Eine faszinierende Aufgabe steht vor uns: eine Gesellschaft aufzubauen, die mit „langsamer, weniger, besser, schöner“ neue Werte findet, die Spirale der permanenten Nichtsättigung bricht, die illusorischen Wachstumsträume aufgibt und sich verantwortungsvoll dem guten Leben verpflichtet.’
Diese Formulierung stammt aus dem Jahre 1997. Sie ist aktueller denn je und es lohnt sich, dafür einzutreten.
Dieser Artikel ist keine wissenschaftliche Arbeit. Es sind Gedankengänge, die seitens der Autoren in ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement gewonnen wurden. Diese Überlegungen wurden inhaltlich gestärkt durch diverse Literatur und unserem Respekt vor engagierten Menschen wie Jean Ziegler, Thomas Pogge oder dem unvergessenen Hans Glauber, die uns mit ihren Überzeugungen sehr für unser Engagement in der Zivilgesellschaft motivieren.
Literaturhinweise:
Hans Glauber, Langsamer, Weniger, Besser, Schöner – Bausteine der Zukunft, München 2006.
Meinhard Miegel, Exit – Wohlstand ohne Wachstum, Berlin 2010.
Thomas Pogge, Gerechtigkeit in der Einen Welt, , hg. v. Julian Nida-Rümelin; Wolfgang Thierse u. a., Essen 2009.
Jeff Rubin, Warum die Welt immer kleiner wird – Öl und das Ende der Globalisierung, München 2010.
UNEP, Green Economy,
http://www.unep.org/greeneconomy, 11.02.2011
Worldwatch Institute (Hg.), Zur Lage der Welt 2004 – Die Welt des Konsums, München 2004.
Dass., Zur Lage der Welt 2010 – Einfach besser Leben – Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil, München 2010.
World Wildlife Fund, Living Planet Report 2010, 2010,
http://assets.panda.org/downloads/living_planet_report_2008.pdf, 11.02.2011
Jean Ziegler, La Haine de l’Occident, Paris 2008.
Françoise Kuffer
Jahrgang 1960
Lehrbeauftragte im Echternacher Lyzeum
Ehrenabgeordnete
Aktiv in der Solidaresch Aktioun Echternach ONGD
Raymond Becker
Jahrgang 1953
Staatsangestellter
1995-2003 Vorstandsmitglied des Öko-Instituts Freiburg e.V.
Aktiv im Cercle de Réflexion et d’Initiative Vivi Hommel asbl
Artikel von Françoise Kuffer und Raymond Becker im Rahmen der Ausstellung „Armes Luxemburg?!“
Details betreffend die Ausstellung unter: