Armistice? Es geht um Mehr! (Teil 2/2)

Während all der Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Waffenstillstands von Compiègne, wäre es zwingend sich an Immanuel Kant (1724-1804) zu orientieren. Sein 1795 veröffentlichter philosophischer Entwurf „Vom ewigen Frieden“ beginnt mit den Sätzen „Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden. Denn alsdenn wäre es ja ein bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hostilitäten bedeutet (…).“

Nadja Douglas wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), ein unabhängiges, internationales und interdisziplinäres Forschungsinstitut in Berlin, kommt zu folgender Analyse: „Was heute unvorstellbar ist, war Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre Realität: Es existierte ein funktionierender Sicherheitsdialog zwischen Ost und West, strategische Zurückhaltung war nahezu selbstverständlich (…). NATO- und EU-Erweiterung auf der einen und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Frühjahr 2014 durch Russland auf der anderen Seite sind nur einige der Faktoren, die das gegenseitige Vertrauen zwischen Russland und dem Westen nachhaltig zerstörten. Der mühsame Prozess der Annäherung im Rahmen von unzähligen vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen ist innerhalb weniger Jahre zunichtegemacht worden.“ Diese Handlungsweise führte dazu, dass es aktuell kein funktionierendes Rüstungskontrollforum mehr gibt. Trotz aller militärischen Muskelspiele bleibt es von übergeordneter Bedeutung weiter eine stabile Sicherheitsordnung anzustreben.

Neben den Vereinten Nationen bleibt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hierfür ein wichtiger Bestandteil. Die OSZE selbst sieht seine Aufgaben in einem politischen Dialog betreffend Sicherheitsfragen, als eine Art Plattform für ein gemeinsames Handeln. Zudem ist wichtiges Ziel die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Die Organisation mit Sitz in Wien, versteht den Sicherheitsbegriff nicht auf einer reinen politisch-militärischen Ebene, sondern auch unter Einbindung einer Wirtschafts- und Umweltdimension, sowie einer menschlichen Dimension. Ein Ausdruck, der seitens der OSZE geprägt wurde. Die menschliche Dimension umfasst die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten, Fragen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie humanitäre Angelegenheiten.

Die OSZE bietet seinen 57 Teilnehmerstaaten in Nordamerika, Europa und Asien, sowie 11 Kooperationspartnern in Asien, Australien und dem Mittelmeerraum, ihre Hilfe durch Zusammenarbeit bei Konfliktverhütung, Krisenmanagement und Konfliktfolgenbeseitigung an. Es gilt immer Differenzen zu überwinden und Vertrauen aufzubauen. Die OSZE ist die weltweit größte regionale Sicherheitsorganisation.

Wie die Vereinten Nationen steht die Organisation für eine „kollektive Sicherheit“. Die Idee der kollektiven Sicherheit wird mit folgenden Prinzipien definiert: Gewaltverzicht, politischer Souveränität der Staaten, der Unverletzlichkeit ihres Territoriums, friedlicher Streitbeilegung im Vorfeld offener Konflikte, z.B. durch gegenseitige Konsultationen oder Anerkennung einer übernationalen Schiedsgerichtsbarkeit, Bereitschaft zur Beseitigung von Konfliktursachen mit Instrumenten wie Rüstungskontrolle oder Abrüstung.

OSZE und Vereinte Nationen stärken.

Die Arbeitsweise der OSZE wurde durch den Bericht einer internationalen Kommission für Abrüstung und Sicherheit geprägt. Im Jahre 1982 veröffentlichte, in einem sich steigernden Ost-West-Spannungsfeld, eine Kommission unter Leitung von Olof Palme den Bericht „Common Security – A Blueprint for Survival““. Hier wurde dargelegt, wie internationale Zusammenarbeit, Abrüstung und Entmilitarisierung vorangetrieben werden könnten. Fragen der Sicherheit wurden nicht auf militärische Mittel reduziert. Die Grundsätze dieses Berichtes waren: Alle Nationen haben ein legitimes Recht auf Sicherheit; Militärische Gewalt ist kein legitimes Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Kontroversen; Zurückhaltung ist notwendig als Ausdruck nationaler Politik; Sicherheit kann nicht durch militärische Überlegenheit erreicht werden; Reduzierungen und qualitative Beschränkungen von Waffensystemen sind für die gemeinsame Sicherheit notwendig; Verknüpfungen zwischen Abrüstungsverhandlungen und politischen Ereignissen sollten vermieden werden. Für die Palme-Kommission war klar: Es gibt keine Sicherheit vor- oder gegeneinander, sondern nur noch miteinander.

Folgerichtig wurde unilaterale Abschreckungspolitik, also Handeln eines Staates im eigenen Interesse ohne Rücksicht auf die Interessen anderer, abgelehnt. Zudem passten Sicherheitsallianzen nicht in die Logik gemeinsamen Sicherheitsvorstellungen. Betont wurden unprovokative und nicht-offensive Verteidigungsstrukturen.

Dieses Konzept wird allgemein als europäische Weiterentwicklung der kollektiven Sicherheit angesehen. Interessant wäre es dieses „europäische“ Konzept im Lichte der aktuellen Gegebenheiten weiterzuentwickeln.

Trotz aller Enttäuschungen bleibt die OSZE ein wichtiger Pfeiler zum Erreichen einer friedlicheren Welt. Seit rund fünfzehn Jahren kämpft die OSZE gegen einen Bedeutungsverlust. Entscheidend hierfür waren die Erweiterungsprozesse innerhalb der EU, die stärkere politische Rolle des Europarates und die territoriale Ausdehnung der NATO. Diese können ihren Mitgliedern vermeintlich mehr bieten als die OSZE. Insbesondere stechen die militärischen Sicherheitsgarantien und die wirtschaftlichen sowie finanziellen Möglichkeiten hervor. Fakt bleibt, dass keine regionale Institution, ein solch vielfältiges Mandat und so viele Mitglieder hat. Besonders in stürmischen Zeiten wie diesen, brauchen wir dieses gemeinsame Forum, das zwischen „Vancouver und Wladiwostok“ und gar darüber hinaus, verloren gegangenes Vertrauen wiederaufbauen kann. Die OSZE wird dringender denn ja gebraucht. Die Friedensbewegung muss sich ihrer Bedeutung bewusster werden, die Politik muss sie aus ihrem Bedeutungsverlust befreien.

Winston Churchill formulierte mal sehr prägnant: „Die UN wurde nicht gegründet, um uns den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu bewahren.“ Das Kernanliegen der Vereinten Nationen bildet bis heute die Wiederherstellung und die Bewahrung des internationalen Friedens. In diesem Sinne bleibt die Völkergemeinschaft eine wichtige Struktur zum Erreichen einer sichereren und friedlicheren Welt.

Zu bedauern ist, dass die UN keine ausführende politische Gewalt hat. Sie muss so ihre Ziele mit Resolutionen verfolgen. Sie ist zur Umsetzung ihrer Forderungen auf einzelne Mitgliedsstaaten angewiesen. Dies bevorteilt besonders die mit einem Veto-Recht ausgestatteten hochgerüsteten Sicherheitsratsmitglieder.

António Guterres, Generalsekretär der Völkergemeinschaft, hat für das 21. Jahrhundert sechs gemeinsame Werte von besonderer Bedeutung skizziert: Freiheit; Gerechtigkeit und Solidarität; Toleranz; Gewaltverzicht; Achtung vor der Natur und gemeinsame Verantwortung. Die UN bleibt ein wichtiger Bestandteil zum Erreichen eines weltweiten Friedens.

Für Frank-Walter Steinmeier seien die Vereinten Nationen „vielleicht nicht Sitz der Weltvernunft“, aber doch „das Klügste, was wir nach zwei Weltkriegen und 80 Millionen Toten hervorgebracht haben“.

Nicht nur während den Gedenkfeiern in diesen Novembertagen sollten wir uns bewusst werden, dass es um mehr als nur das Erreichen von Waffenstillständen geht. Es geht um Frieden! Ein Engagement für eine friedliche, humane und sozial gerechte Gesellschaft lohnt immer. In diesem Sinne: „Frieden braucht Mut, Mut zur Wahrheit, den Mut sich selber zu Verändern.“ Bertha von Suttner (1843-1914), Friedensnobelpreisträgerin.

Raymond Becker
Mitglied des Koordinationsteams
der Friddens- a Solidaritéitsplattform Lëtzebuerg.

Armistice? Es geht um Mehr! (Teil 1/2)

„Was wir mit dem ehrenvollen Namen Frieden bezeichnen, ist oft nicht mehr als ein kurzer Waffenstillstand, in dem der Schwächere auf seine Ansprüche, seien sie nun gerecht oder ungerecht, verzichtet, bis er die Gelegenheit für günstig hält, sie mit neu erstarkter Waffengewalt wieder zu fordern.“

Luc de Clapiers, Marquis de Vauvenargues (1715 – 1747), französischer Philosoph, Moralist und Schriftsteller

Vor 100 Jahren, am 11. November 1918 wurde zwischen den beiden Westmächten Frankreich und Großbritannien sowie dem deutschen Reich, der Waffenstillstand (Armistice) von Compiègne geschlossen. Das Abkommen beendete die Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges.

Die weiteren historischen Ereignisse sind bekannt. Ein Waffenstillstand war weltweit, um dies mit dem Zitat von Luc de Clapiers zu belegen, immer nur von kurzer Dauer.

Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg, veröffentlicht jährlich eine Übersicht über die Kriege und bewaffneten Konflikte. Laut dieser Forschungseinrichtung fanden 2017 weltweit 27 Kriege und 4 sogenannte bewaffnete Konflikte statt. Seit 2007 veröffentlicht ein Internationales Gremium aus Friedensexperten, Friedensinstituten, Expertenkommissionen, dem Zentrum für Frieden und Konfliktstudien der Universität Sydney, dies in Kooperation mit der britischen Zeitschrift The Economist, einen „Global Peace Index (GPI)“. Laut dem GPI stieg die Zahl der Menschen, die in Konflikten getötet wurden im Zeitraum von 2006 bis 2016 um 264%. Das „Internationale Institut für Strategische Studien (IISS)“ in London, beziffert die Zahl der Toten in bewaffneten Konflikten im letzten Jahr, auf 157.000 Menschen.

Die Zeichen stehen auf Sturm.

Die Welt ist nicht friedlicher geworden:

  • Laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI erreichten die weltweiten Militärausgaben 2017 mit schätzungsweise 1.739 Mrd. US-Dollar den höchsten Stand seit Ende des Kalten Krieges im Jahre 1989. Das entspricht 2,2% des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder Pro-Kopf-Ausgaben von 230 US-Dollar. Diese Tendenz ist weiter ansteigend. Als nachdenklicher Vergleich: Die jährlichen Ausgaben der Vereinten Nationen zum Erhalt des weltweiten Friedens betragen mal nicht 0,5% dieser Summe.
  • Der internationale Waffenhandel boomt. Größter Kunde der Waffenindustrie ist Indien. Die Spannungen dieses Landes mit Pakistan und China treiben die Waffenimporte in Rekordhöhe. Das menschenverachtende Saudi-Arabien folgt an zweiter Stelle der Großeinkäufer, vor Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Da für so Manchen Geld die Welt regiert und reine wirtschaftliche Interessen kaum mit Ethik in Einklang zu bringen sind, profitieren rüstungspolitische Konzerne besonders in den USA, Russland, Frankreich, Deutschland und Großbritannien mit Unsummen an dem blutigen Handel. Laut Amnesty International ist der genaue Wert des internationalen Handels und Transfers von Waffen schwer zu ermitteln, da der Waffenhandel sehr oft im Geheimen stattfindet. Schätzungen zufolge belief sich der Handel im Jahr 2010 auf etwa 72 Milliarden US-Dollar, heutzutage zeigen diese Schätzungen, dass er auf 100 Milliarden Dollar pro Jahr gestiegen ist.
  • Künstliche Intelligenz und Killerrobotor entfachen Begeisterung bei Militärs und Rüstungsindustrie. Diese neuen aufstrebenden Werkzeuge der Kriegsführung versprechen ungeahnte militärische Optionen, aber besonders den großen finanziellen Reibach. Rasha Abdul Rahim, Beraterin für Künstliche Intelligenz und Menschenrechte bei Amnesty International bringt es auf den Punkt: „Killerroboter sind nicht länger der Stoff von Science-Fiction. Von intelligenten Drohnen bis hin zu automatisierten Geschützen, die ihre Ziele selbst bestimmen können – diese Waffen entwickeln sich technisch schneller als das internationale Recht. Wir gleiten in eine Zukunft, in der wir über die Auslöschung von Menschenleben nicht mehr selbst entscheiden“. Von Ethik keine Spur, eine Horrorvorstellung.
  • Vor wenigen Monaten bestätigte die amerikanische Führung durch ihren Vize-Präsidenten „Jetzt ist die Zeit gekommen, das nächste große Kapitel in der Geschichte unserer Streitkräfte zu schreiben (…) Amerika müsse sich auf das nächste Schlachtfeld vorbereiten“, um dort „eine neue Generation von Bedrohungen gegen unser Volk und unsere Nation abzuwehren. Die Zeit ist gekommen, um die United States Space Force zu gründen.“ Neben der Aufrüstung bei den Land-, Wasser- und Luftstreitkräften scheint sich das Weltall als viertes militärisches Feld zu profilieren.
  • Anlässlich der diesjährigen „Münchener Sicherheitskonferenz“ stand das Thema „Cyberwar“ im Fokus. Beim Krieg der Daten wird bereits heftig gefochten. Ein Experte des Nato Cooperative Cyber Defence Centre in Tallin präzisiert: „Reine Cyberkriege werden selten sein, wir erwarten eher Hybride mit virtueller und konventioneller Beteiligung. Wenn aber ein Cyberangriff auf die vitalen Strukturen eines Staates erfolgreich ist und nicht kurzfristig behoben werden kann, dann beginnt das Sterben in etwa 14 Tagen.“ Das Sterben in unserer realen Welt. Somit hätten wir eine fünfte militärische Ebene.
  • Seit dem Ende des sogenannten „kalten Krieges“ ist die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den Großmächten sehr hoch. Gezielt werden verpflichtende Verträge, wie das Iran-Abkommen, sabotiert. Militärische Eskalation wird wieder bewusst gefördert. Atomwaffen gelten wieder als Garant jeweiliger nationaler Sicherheitsgarantien. Gedankenspiele begrenzter Nuklearkriege sind konkret. Eine weltweite Modernisierung dieser Waffen durch geringere Sprengkraft, höhere Zielgenauigkeit und größere Zerstörungswahrscheinlichkeit lassen diese Gedankenspiele zu. Folgendes passt hier ins Bild: Die seitens den USA erklärte Aufkündigung des sogenannten INF-Vertrages. Die Vereinbarung (Intermediate Range Nuclear Forces) verbot es den USA und Russland, landgestützte Nuklearraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu produzieren, zu besitzen oder zu testen. Unabhängig von den gegenseitigen Vorwürfen eines Vertragsbruchs, geht es hier um Wesentliches: Das Liebäugeln mit einer atomaren militärischen Eskalation. Um die nukleare Sicherheit in Europa, steht es so schlecht wie schon lange nicht mehr.
  • Nach Berechnungen der Vereinten Nationen, stieg die Zahl der Geflüchteten Ende 2018 auf 65,6 Millionen. Erstmals in der Geschichte der Neuzeit machten Flüchtlinge 1% der Weltbevölkerung aus. Es zeichnet sich ab, dass dieser traurige Rekordwert weiter steigen wird. Wir nehmen Flucht und Migration vorwiegend als Herausforderung für unsere Gesellschaft und Volkswirtschaft wahr. Wir blenden gerne aus, dass es zum größten Teil Entwicklungsländer sind, die unter der globalen Flüchtlingskrise zu leiden haben. Mehr als die Hälfte der weltweit Vertriebenen überschreitet nicht einmal die Grenzen des eigenen Herkunftslandes. Die Ursachen für Flucht und Migration sind oft komplex. Krieg, korrupte staatliche Strukturen, Gewalt, ökonomisches Desaster oft durch westliche wirtschaftliche Interessen, Naturkatastrophen oder Klimawandel. Wir blenden gerne den Ursprung vieler Konflikte aus: Ihr Kern liegt bis heute im selbstherrlichen Handeln mancher europäischen Staaten in einer wenig ruhmreichen Kolonialzeit. Ein Nährboden für Extremismus und Terrorismus.

Von Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799, Mathematiker und Naturforscher), eng verbunden mit Kant und Goethe, stammt das eigentlich bis heute gültige Zitat: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“

(Fortsetzung folgt)

Raymond Becker
Mitglied des Koordinationsteams
der Friddens- a Solidaritéitsplattform Lëtzebuerg.