Lichtflackern am Ende des atomaren Tunnels?

„Es werden schwierige Verhandlungen, die jetzt beginnen müssen und, davon bin ich überzeugt, auch beginnen werden.“

Michael Gorbatschow in „Was jetzt auf dem Spiel steht“ im September 2019.

Endlich sollen am 22. Juni in Wien, Gespräche zwischen den USA und Russland über atomare Abrüstung stattfinden. Es gehe hierbei um Fragen der „strategischen Stabilität“ wie es aus Diplomatenkreisen verlautet.

Die USA wollen, dass China ebenfalls an diesen Gesprächen teilnimmt. Es bleibt zu hoffen, dass die USA diese Forderung nicht nutzen, um bei einer Absage Chinas, sich dann an den Gesprächen vorbei zu mogeln. Wichtig vor allem ist, dass wieder eine Dialogbasis zwischen den USA und Russland für Abrüstung und Vertrauen geschaffen wird.

Es gilt sich immer wieder zu vergewissern wie nahe wir am Abgrund einer möglichen Katastrophe stehen. Vieles haben wir durch die Covid-19 Pandemie verdrängt, doch die Gefahren bleiben. Nicht von ungefähr haben die Atomwissenschaftler im „Bulletin of the Atomic Scientists“ die symbolische Doomsday-Clock dieses Jahr auf 100 Sekunden vor Mitternacht eingestellt. Mit dieser fiktiven Uhr wollen die Wissenschaftler verdeutlichen, wie groß das Risiko einer globalen Atom- und/oder Umweltkatastrophe ist. So nahe an Mitternacht war die Welt zuletzt 1953, als die Uhr auf 120 Sekunden eingestellt wurde. Damals testeten die USA und die damalige Sowjetunion im Abstand von neun Monaten Wasserstoffbomben. Seit diesem Datum konnten die beiden Supermächte die Welt mit Atombomben vernichten.

Besonders bei den Atomwaffen tragen die USA und Russland die größte Verantwortung. Warum dies so ist, ergibt sich aus folgender Aufzählung. Weltweit gibt es laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI 13.865 Atomsprengköpfe. Bei den neun Atomstaaten ist die Aufteilung wie folgt: Russland 6.500, USA 6.185, Frankreich 300, China 290, Großbritannien 200, Pakistan 150-160, Indien 130-140, Israel 80-90 und Nordkorea 20-30. Damit wird deutlich, dass die beiden Supermächte mit 91% des gesamten atomaren Arsenals in der Pflicht stehen.

Bei diesen Zahlen ahnt man die Zurückhaltung Chinas an atomaren Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und Russland teilzunehmen. Aus ihren diplomatischen Kreisen ist zu vernehmen, dass sich das Land gerne an solchen Verhandlungen beteiligt, wenn denn die USA und Russland sich mit ihren Atomwaffen auf dem Zahlenniveau der Volksrepublik bewegten.

Vor wenigen Tagen berichtete die Washington Post von einer konkret angedachten Durchführung eines ersten US-Atomtests seit 1992, dies als mögliche Warnung an Russland und China. Die Idee dieser Ankündigung könnte sein, dass besonders China aus Angst vor der Entwicklung amerikanischer Atomwaffen der Unterzeichnung eines neuen Abkommens zustimmen würde. Die Aufnahme neuer Tests aber wäre ein Schlag gegen den bestehenden internationalen Vertrag um das Verbot von Nuklearversuchen. Dieser muss von der internationalen Gemeinschaft resolut verteidigt werden. Viele Beobachter sehen in einem solchen möglichen Test den Beginn eines neuen „kalten Krieges“ und weiterer massiver Aufrüstung.

Wichtige, bestehende Verträge erhalten und stärken!

In den letzten Jahren wurden wichtige Verträge der Sicherheitskontrolle aufgekündigt oder stehen auf der Kippe. Besonders drei dieser Verträge haben viel zur europäischen Sicherheitsarchitektur beigetragen. Es sind dies der ABM-Vertrag (Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen), der INF-Vertrag (Beseitigung der Kurz- und Mittelstreckenraketen) und das Open Skies-Abkommen, ein Vertrag, der es den 34 Unterzeichnerstaaten erlaubt, Beobachtungsflüge im Luftraum der jeweiligen Vertragspartner durchzuführen.

In der aktuellen Situation mahnen Friedensforscher vor einem neuen Wettrüsten. Das Aufkommen neuer Bomben mit geringer Sprengkraft untergräbt das Konzept der Abschreckung und erhöht das Risiko eines Atomkonflikts. Die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung nicht nur auf dem europäischen Kontinent wird durch all dies erhöht.

Die Gespräche am 22. Juni müssten sich besonders wichtigen noch bestehenden Abrüstungs- oder Kontrollverträgen widmen.

Dies wäre der seit 1970 gültige sogenannte Atomwaffensperrvertrag. Für den Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres ist „dieser Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, ein wesentlicher Pfeiler des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit und das Herzstück des nuklearen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregimes. Sein einzigartiger Status beruht auf seiner nahezu universellen Mitgliedschaft, rechtsverbindlichen Abrüstungsverpflichtungen, einem überprüfbaren System der Nichtverbreitungssicherheit und der Verpflichtung zur friedlichen Nutzung der Kernenergie“. Alle 5 Jahre wird dieser Vertrag einer Überprüfungskonferenz unterzogen. Geplant war diese im April 2020. Die Konferenz wurde aber aufgrund der weltweiten Pandemie bis spätestens April 2021 verschoben. Es bleibt zu hoffen, dass diese Vertagung seitens der internationalen Gemeinschaft genutzt wird, um sich in der Zwischenzeit stärker den rechtsverbindlichen Abrüstungsverpflichtungen zu widmen. Die USA und Russland könnten hier in wenigen Tagen schon Zeichen setzen.

Der New-Start-Vertrag zur Begrenzung strategischer Atomwaffen, also Waffen, die für den Einsatz in großer Reichweite vorgesehen sind, ist ein wichtiger Bestandteil atomarer Abrüstung. Der Vertrag sieht vor, dass Russland und die USA ihre Nukleararsenale auf je 800 Trägersysteme (Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber und U-Boote) und 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe verringern. Bei der Begrenzung dieser Atomwaffen handelt es sich wie ersichtlich nicht um alle bestehenden Atomwaffen, sondern gezielt um startbereite, also sehr schnell einsatzbare Bomben. Ohne auf die letzten Spitzfindigkeiten bei der Sprengköpfen-Zählerei eingehen zu wollen, wurden die Zielsetzungen des Vertrages anscheinend erreicht. New-Start läuft am 5. Februar 2021 aus und kann im gegenseitigen Einvernehmen unter den Vertragsparteien bis zu 5 Jahren verlängert werden. Dies wäre ein gutes Signal in Richtung gegenseitiges Vertrauen. Dann müssten zügig weitere Abrüstungsschritte sowie Nachbesserungen, wie verbesserte Kontrollmechanismen oder Einbeziehung neuartiger Träger- und Waffensysteme in diesem Vertrag ausgehandelt werden.

Die kommenden Monate könnten sich als ein Lichtflackern am Ende des atomaren Tunnels erweisen. Alles andere wäre fatal. Gegenseitige Kontrolle, Abrüstung und Vertrauen sind die Pfeiler, auf denen der Frieden aufgebaut ist.

Raymond Becker
Koordinationsteam der Friddensplattform Lëtzebuerg