„Jeder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen… Fragen wir die Opfer.“
Auszug aus Fratelli Tutti
Unabhängig von der persönlichen Einstellung zur katholischen Kirche, verdient die am 3. Oktober publizierte dritte Enzyklika „Fratelli tutti: Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft““ von Papst Franziskus Aufmerksamkeit und gesellschaftspolitische Diskussion.
Eine Enzyklika, eine Art Rundschreiben, ist mit dem Lehrauftrag des Papstes verbunden. Sie soll ihren Adressaten die offizielle Position der katholischen Kirche zu einem bestimmten Thema darlegen. Meistens liegt das Thema außerhalb des Bereichs des Zeitgeschehens, was der Lehre einen allgemeinen und relativ dauerhaften Rahmen gibt. Sich mit einem bestimmten aktuellen Thema zu befassen, wird seitens eines Papstes aufgrund des Zustands der Welt beurteilt. So können Enzykliken präzisere Warnungen oder sogar spezifische Verurteilungen enthalten. Sie sind nicht dazu gedacht, neue Dogmen der katholischen Kirche zu definieren.
Während der Brief formell an die Bischöfe gerichtet ist, richtet er sich eigentlich an jeden Gläubigen oder Nicht-Gläubigen, der sich für die Positionen der Kirche interessiert.
Es ist dies die dritte Enzyklika von Papst Franziskus.
Die erste „Lumen Fidei – Das Licht des Glaubens“ wurde 2013 vorgestellt. Der Papst gibt immer an, dass dieser Brief eine vierhändige Enzyklika war. Dieses Rundschreiben wurde sehr stark von seinem Vorgänger Benedikt XVI. beeinflusst.
Das zweite „Laudato Si‘ – Gelobt seiest du“, wurde 2015 veröffentlicht. Mit dem Untertitel „zur Bewahrung des gemeinsamen Hauses“ widmet sie sich ökologischen und sozialen Fragen, der ganzheitlichen Ökologie und ganz allgemein der Bewahrung der Schöpfung. Hier kritisiert der Papst den Konsumismus, prangert die unverantwortliche Entwicklung unserer Gesellschaft die gleichzeitige die Umweltzerstörung und die globale Erwärmung an.
Die dritte nun „Fratelli tutti“ ist ein Text zum Thema Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft. So mancher sieht in dieser Enzyklika einen kapitalismus- und gesellschaftskritischen Aufruf.
Fakt ist, dass die beiden letzten Enzykliken des argentinischen Jesuiten Jorge Bergoglio, jetzt Papst Franziskus, eher als politische denn als mystische Dokumente zu betrachten sind.
Dass diese Enzyklika sich nicht nur an Katholiken wendet beweisen verschiedene Inspirationsquellen, die der Verfasser selbst angibt. Neben christlichen Persönlichkeiten wie dem heiligen Franziskus von Assisi und Charles de Foucauld, werden Nicht-Katholiken wie Martin Luther King, der baptistische Pastor und gewaltlosen afroamerikanischen Aktivist für die schwarzamerikanische Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten; Desmond Tutu, anglikanischer Erzbischof von Südafrika, ein Anhänger der „Ubuntu“-Philosophie, eine Philosophie der Interdependenz, des Teilens und der Solidarität; sowie Mahatma Gandhi, indischer Rechtsanwalt, Pazifist, geistiger und politischer Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Vater des gewaltlosen Protests, erwähnt.
Die Enzyklika ist zudem geprägt von einer gemeinsamen Botschaft mit dem Großscheich und Großimam der Al-Azhar-Universität in Kairo, Aman Al-Tayyeb, der obersten Lehrautorität des sunnitischen Islam. Der Imam wird in der Enzyklika mehrmals zitiert, eine Premiere für die katholische Kirche. Er verweist wiederholt auf die im Februar 2019 in Abu Dhabi (Vereinigte Arabische Emirate) erfolgte gemeinsame Unterzeichnung eines „Dokuments über menschliche Brüderlichkeit für den Weltfrieden und das gemeinsame Zusammenleben“.
„Fratelli tutti“ beginnt mit einer päpstlichen Analyse der aktuellen Weltlage. Franziskus übt deutliche Kritik am Kapitalismus und an der Marktdominanz. Mit klaren Worten fordert das Rundschreiben den Zurückgelassenen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu helfen und die Strukturen, die diese Ausbeutung ermöglichen, zu ändern. Deutlich äußert sich der Pontifex zum Marktradikalismus: „Der Markt löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen das Dogma dieses neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkommenden Herausforderung immer wieder dieselben Rezepte hervorzieht.“
Betreffend die Menschenrechte fordert die Enzyklika nicht immer nur die individuellen Freiheitsrechte zu betonen, sondern genauso die sozialen Menschenrechte in den Fokus zu stellen. Oft wird verschwiegen, dass diese sozialen Menschenrechte auch zur Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gehören.
Die Aussagen des Rundschreibens zum Thema Migration lassen sich in folgendem Zitat zusammenfassen: „Unsere Bemühungen für die zu uns kommenden Migranten lassen sich in vier Verben zusammenfassen: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren.“
„Fratelli tutti“ setzt auf eine Reform der Vereinten Nationen und eine Politik des Multilitarismus, also die Zusammenarbeit mehrerer Staaten bei der Lösung von politischen, gesellschaftlichen oder technischen Problemen die grenzübergreifend sind.
Eine Neuausrichtung der Friedensethik der katholischen Kirche ist die Distanzierung von der Theorie vom gerechten Krieg, die militärisches Vorgehen unter bestimmten Bedingungen für legitim erklärt hatte und vielfach missbraucht wurde. Der Papst erklärt diese Neuausrichtung mit folgenden Überlegungen: „(…) durch die Entwicklung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen und die enorm wachsenden Möglichkeiten der neuen Technologien der Krieg eine außer Kontrolle geratene Zerstörungskraft erreicht hat, die viele unschuldige Zivilisten trifft. (…) Deshalb können wir den Krieg nicht mehr als hypothetische Möglichkeit betrachten, denn die Risiken werden wahrscheinlich immer den hypothetischen Nutzen, der ihm zugeschrieben wurde, überwiegen. (…) Nie wieder Krieg!“
Die Enzyklika verurteilt das Konzept der nuklearen Abschreckung und erklärt „das Ziel einer vollkommenen Abschaffung von Atomwaffen sowohl zu einer Herausforderung als auch zu einer moralischen und humanitären Pflicht.“
Seit der Veröffentlichung der Enzyklika ist es schon interessant zu verfolgen wie Teile der konservativen und neoliberalen Gesellschaft innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche, das Rundschreiben in die unterste Schublade verstauen und dort verstauben lassen wollen.
Fratelli tutti ist ein aufrüttelnder Appell für mehr „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit)“ unter den Menschen, dies unabhängig von ihrer Religion, ihrer Nationalität oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Raymond Becker
Cercle de réflexion et d’initiative Vivi Hommel asbl