Utopische Oasen – dringend notwendig!

Laudatio vum Raymond Becker fir de Patrick Godar, Präisdréier vum Cercle Vivi Hommel Präis 2021

Lëtzebuerg, Centre Convict, 21. September 21

„Wie waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“

Roger Willemsen aus seiner Zukunftsrede „Wer wir waren“.

Willemsen tätigte kurz vor seiner Krankheit einen leidenschaftlichen Aufruf an die nächste Generation, sich nicht einverstanden zu erklären.

In einer Welt von Klimakrise, Artensterben, Biodiversitätsverlust, Massenvernichtungswaffen, weltweit geführten Kriegen und immer grösser werdenden sozialen Ungleichheiten, wird es von zentraler Bedeutung, sich nicht mit diesen menschheitsgefährdenden Realitäten einverstanden zu erklären.

Dieses sich nicht einverstanden zu erklären und nach gewaltfreien Lösungen zu suchen, ein gemeinsames Gestalten der Zukunft, war auch ein Hauptanliegen von Vivi Hommel.

Dies sind die Beweggründe für den symbolischen Vivi Hommel Preis. Nach Jean Feyder, Martine Greischer, Fairtrade Lëtzebuerg, der Gemeinde Roeser, Blanche Weber nun Patrick Godar.

Sie alle streiten sich um ihre Ideale, ja streiten sich, denn Streit um Ideen, um Utopien für eine bessere, lebenswertere, solidarische Zukunft ist dringend notwendig in unserer Gesellschaft, wo die Debattenkultur auch durch die sozialen Netzwerke vergiftet ist.

„Wo die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.“ Ein Zitat von Jürgen Habermas welches Perfekt passt.

Bei unserem diesjährigen Preisträger sticht sein emphatisches Engagement in Brasilien, in seiner Zusammenarbeit mit indigenen Bevölkerungen, in Basisgemeinden und -gruppen oder in Favelas, in seinem konsequenten Schaffen in der Entwicklungszusammenarbeit hier in Luxemburg, in seinen Aktivitäten innerhalb der katholischen Kirche heraus. Dies war für uns als Cercle Vivi Hommel ausschlaggebend bei der Wahl von Patrick Godar.

Die Vita und das Engagement von Patrick reihen sich nahtlos in die aktuellen weltweit bestehenden Herausforderungen ein. Dies ebenfalls ein wichtiges Kriterium bei der Verleihung dieses Preises, wo das Schaffen des Laureaten immer in die gesellschaftspolitische Aktualität gesetzt wird.

Die Preisverteilung findet bewusst am 21. September dem internationalen Friedenstag der Vereinten Nationen statt. Für 24 Stunden sollen die Waffen bedingungslos ruhen! Diese Forderung beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2001 und erklärte den 21. September zum Internationalen Friedenstag. In diesem Jahr steht er unter dem Motto „Recovering better for a sustainable and equitable world“. Im Vorfeld dieses Internationalen Friedenstages formulierte der UN-Generalsekretär Antonio Guterres: „Frieden bildet die Grundlage für diesen Neuanfang. (…) Ebenso wenig schaffen wir eine zukunftsfähige, krisenfeste und friedliche Welt, solange wir Krieg gegen die Natur führen. Die Bewältigung der (Pandemie)-Krise gibt uns Gelegenheit, unser Verhältnis zu unserem Planeten und unserer Umwelt grundlegend zu wandeln.“

Die Welt „auf einem katastrophalen Weg.“

Die deutsche Politökonomin Maja Göpel bringt es genau auf den Punkt: „Die Irreversibilität der Veränderung ökologischer Systeme in ihrer Regeneration ist, glaube ich, noch nicht begriffen worden. Wenn wir diese Kipppunkte erreichen wo das Klima kippt, wo die Biodiversität kippt, wo die Ozeane kippen, dann können wir nicht einfach sagen „Wir schalten diese Technologie wieder aus“. Wir haben komplett veränderte Lebensgrundlagen für die Menschheit, für die nächsten Generationen. Und das wird in keiner ökonomischen Kalkulation adäquat berücksichtigt. Das ist nicht mal planbar, prognostizierbar. Und deshalb ist die Risikohierarchie in der Richtung umzudrehen. Und das World Economic Forum schreitet je inzwischen voran, wo ich mich auch wirklich frage: Wenn die CEOs und wirtschaftlichen Entscheider dieser Republik und der Welt inzwischen sagen: Von den Top 6 globalen Risiken sind 5 ökologisch und das 6. Massenvernichtungswaffen, dann ist doch einfach die Zeit vorbei, wo man darüber reden muss, ob jetzt Ökologie was kosten darf.“

Darum passt es perfekt, aufgrund des am Freitag anstehenden Klima-Streiks in Luxemburg und aufgrund des Engagements von Patrick Godar, das Thema Klimawandel und als Fallbeispiel das Thema Regenwälder zu skizzieren.

Für all die die es immer noch nicht verstanden haben, der neueste Bericht des Weltklimarates IPCC, der aktuelle wissenschaftliche Stand der globalen Klimaforschung müsste den letzten Zweifler aufrütteln.

In neun Jahren könnte der Anstieg der globalen Mitteltemperatur 1,5 Grad überschreiten, prognostiziert der Weltklimarat. Dies sind 10 Jahre früher als vorherige Prognosen es errechneten. Der IPCC warnt vor nie erreichten Extremwetterereignissen. Zurzeit sind wir bei 1,2 Grad und einige verheerende Auswirkungen der globalen Erwärmung sind jetzt schon sichtbar und unvermeidlich. Bei der Erderwärmung befindet sich die Welt auf einem „katastrophalen Weg“ – das ist das Fazit eines ganz neuen UN-Klimaberichts. Laut Generalsekretär Guterres drohen 2,7 Grad mehr und ein „massiver Verlust von Menschenleben“.

Aber es gibt immer noch ein kurzes Zeitfenster, um zu verhindern, dass die Dinge noch schlimmer werden. Wir verursachen selbst das Problem und können etwas dagegen tun. Der Trend lässt sich nur verlangsamen, wenn wir sofort handeln. Um die Erwärmung bei 1,5 Grad anzuhalten, müssen wir laut IPCC weltweit bis 2030 die Emissionen halbieren.

Wir wissen genau, wo wir ansetzen müssten. Hierzu hapert es aber bis dato am politischen Willen. Es hapert aber ebenso am Willen der Gesellschaft. Eine Mehrheit will einfach keine einschneidenden Maßnahmen zwecks Bewältigung der Klimakrise. Die Konsumgesellschaft und der daraus abgeleitete Lebensstyl, Konkurrenzkampf, Gier und Habgier sind die Fetische.

Gehandelt wird wie im Zitat, das dem zynischen Anarchisten, dem amerikanischen Entertainer Groucho Marx zugeschrieben wird: „War kümmert mich die Zukunft, die Zukunft hat sich noch nie um mich gekümmert“.

Wichtige Rolle indigener Völker.

„Was sich heute im Regenwald abspielt, ist ein Raubzug, ist ein Krieg.“ Ein Zitat von José Antônio Lutzenberger, dem bekannten brasilianischen Umweltaktivisten.

Wir wissen ganz genau, dass der Amazonas-Regenwald als „Grüne Lunge“ der Erde gilt. Er ist der größte zusammenhängende Tropenwald und wichtig fürs Weltklima. Zehn Prozent aller bekannten Tierarten leben im Amazonas-Gebiet. Es ist die Heimat von 40.000 Pflanzenarten. Der Amazonas-Regenwald fungiert oder vielleicht aktueller ausgedrückt fungierte, weltweit größter CO2-Speicher.

Dieser natürliche Klimaschutz ist vorerst mal vorbei. Der Amazonas-Regenwald heizt den Klimawandel mittlerweile eher an – statt ihn durch die Bindung von Kohlenstoff zu bremsen. Zu diesem Fazit sind Wissenschaftler*innen in einer Studie gekommen, die im März dieses Jahres im Fachmagazin „Frontiers in Forests and Global Change“ erschienen ist. Die bisherige Erhitzung, Trockenheit, Schädlingsbefall, Waldbrände und Abholzung haben dem Regenwald so zugesetzt, dass seine Speicherfunktion für Kohlenstoff nachgelassen hat. Die Experten zeichnen ein düsteres Bild. Das ernüchternde Fazit: „„Wir haben erstmals die gemeinsame Wirkung dieser Faktoren ausgewertet und es wurde deutlich, dass der Amazonas-Regenwald nicht den Klimanutzen liefert, den wir vom weltgrößten Regenwald erwarten.“

Auch eine im Fachmagazin „Nature Climate Change“ erschienene Analyse der bloßen CO2-Bilanz von Wäldern weltweit, hatte rezent ergeben, dass zumindest der brasilianische Teil des Amazonas-Regenwalds schon mehr Kohlendioxid emittiert, als er bindet. Die Zahlen zeigten erstmals, „dass der brasilianische Amazonas-Regenwald gekippt ist und jetzt ein Netto-Emittent ist“, hält das französische nationale Institut für Agronomie-Forschung (Inra) fest. „Wir wissen nicht, ab welchem Punkt diese Veränderung irreversibel werden könnte.“

Es gibt eine interessante Meta-Studie der Vereinten Nationen betreffend Lateinamerika für eine wahrscheinliche Verbesserung dieser Situation. Das Fazit lautet der indigenen Bevölkerung die Landrechte für die Waldflächen zugestehen, auf denen sie lebt und wirtschaftet – oder die Verwaltung der Gebiete zumindest mit ihr gemeinsam zu gestalten. Studien aus den letzten 20 Jahren zeigen eindeutig, dass die Wälder in Lateinamerika, die von Indigenen verwaltet werden, in der Regel in gutem Zustand sind.

„Die indigene Bevölkerung und die Wälder auf ihren Gebieten spielen eine wichtige Rolle beim globalen und regionalen Klimaschutz und bei der Bekämpfung von Armut, Hunger und Mangelernährung“, erläutert die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO).

Wir müssen uns bewusster werden, dass das westliche Konzept von Natur, das den Menschen nicht als Teil der Natur sieht, sondern ihm einen Beherrschungsauftrag auf den Weg mitgibt, dem Naturverständnis und Weltbild indigener Völker in ihrer Tradition ebenso fremd ist, wie die Unterscheidung zwischen Bodenoberfläche und unterirdischen Bodenschätzen.

Renaissance der Befreiungstheologie.

Ich glaube, dass die sozialpolitisch engagierten Basisgemeinden in Lateinamerika und überhaupt Bewegungen, die ihre Wurzeln in der Befreiungstheologie haben, eine stärkere Rolle spielen werden. Die befreiungstheologischen Bewegungen haben eine revolutionäre Veränderung im Denken und Handeln konzipiert und vermittelt.

Der Schweizer Philosoph und Theologe Josef Estermann sieht eine gewisse Renaissance der Befreiungstheologie, und zwar in der vierten Phase (nach der klassischen, feministischen und indigen-ökologischen). Es geht gerade um die Reflexion einer neuen und diesmal globalen Art von «Unterdrückung» durch einen allmächtig scheinenden Markt und den daraus folgenden Konsumismus. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese zeitgenössische Befreiungstheologie auch den ursprünglichen Gegensatz von «reichem Norden» und «armem Süden» aufzulösen beginnt und das kapitalistische Wirtschaftsmodell und dessen katastrophale Folgen für Zweidrittel der Menschheit und die Natur insgesamt in Frage stellt.

Eine engagierte Zivilgesellschaft, eine Bewegung, die wächst, geht inhaltlich diesen Weg.

In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass die Enzyklika „Laudato Si“ von Papst Franziskus aus dem Jahre 2015 in keiner Weise an Aktualität eingebüßt hat. Kurz vor dem Pariser Klimaabkommen, gab diese „Umwelt-, Sozial- und Klimaenzyklika“ einen wichtigen Impuls. Ich erinnere mich, dass vor 6 Jahren „Laudato Si“ im zivilgesellschaftlichen Bereich, insbesondere bei den Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, des Klima- und Umweltschutzes und den Kapitalismuskritiker*innen positiv aufgenommen worden ist. Diese Überlegungen gepaart mit den Aussagen eines weiteren päpstlichen Rundschreibens „Fratelli Tutti“, über die Geschwisterlichkeit (Brüderlichkeit) und die soziale Freundschaft, sind nahtlose Übergänge und sie gehören dringender denn je in die gesamtgesellschaftliche Debatte.

Unser Preisträger steht nicht zuletzt auch für diese Überlegung.

Der Todestag Dante Alighieris jährte sich vor wenigen Tagen zum 700hundersten Mal. In seinem Werk „Die Göttliche Komödie“ heißt es am Schluss, wenn Vergil und Dante die Hölle wieder verlassen: “Und wir entstiegen aus der engen Mündung / Und traten vor zum Wiedersehn der Sterne.“

Dies in unsere heutige Zeit versetzt: Wir sind in einer engen Mündung, in diesem Jahrzehnt entscheiden wir, in welcher Umwelt die kommenden Generationen die Sterne sehen werden.

Daher benötigen wir Menschen, die an utopische Oasen glauben, die sich in unserer Gesellschaft mit Empathie für mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Solidarität einsetzen.

In diesem Sinne, herzlichen Glückwunsch Patrick Godar.