„Don’t Look Up“: Ein Risikobericht und 100 Sekunden!

„Was wir brauchen ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens“.

Antonio Gramsci (1891-1937), italienischer Politiker und Philosoph, einer der bedeutendsten politischen Denker des Marxismus.

Trefflicher als im rezenten Film „Don’t Look Up“ über einen Asteroideneinschlag auf der Erde, kann man auch die aktuellen Reaktionen von Politik und Gesellschaft auf reale Menschheitsgefahren kaum darlegen. Die fiktive Geschichte ist eine bitterböse Parabel nicht nur auf das Wegsehen vieler Bürger*innen betreffend die Klimakrise, sondern eigentlich auf alle Krisen, welche uns in der Existenz bedrohen. Mal nicht hinsehen, wird schon irgendwie wieder, ist die Devise in unserer auf Konsumgier ausgerichteten Gesellschaft. Dass es aber beileibe nicht wieder irgendwie wird, sondern wir uns auf einschneidende Änderungen einstellen müssen, wird nach der oft zitierten Vogel-Strauß-Taktik verdrängt. Obwohl diese dem Vogel zu gedichteter Taktik ein Mythos ist, beschreibt sie die Situation bildlich gesehen recht gut. Bei dieser praktizierten Kopf-in-den-Sand-Taktik ist die Transformationsforscherin Maja Göpel formell: «Die Frage nach dem Lebensstil wird sich bald sehr stark stellen». Unsere Gesellschaft wird sich nicht länger an Antworten vorbei mogeln können.

Man kann dem Weltwirtschaftsforum (WEF) beileibe nicht vorwerfen die Organisation sei durch paniktreibende Aktivisten durchdrungen. Das WEF veröffentlicht seit 2006 ihren „Global Risk Report“. Das Forum befragte annähernd 1.000 Personen zu ihrer Einschätzung aktueller Risiken für die Menschheit. Die Wirtschaftskapitäne der Welt blicken mit diesem Mitte Januar veröffentlichten Risikoreport 2022 besorgt in die Zukunft. Es überwiegt der Pessimismus: 41,8 Prozent der Befragten erwarten für die nächsten drei Jahre eine Welt der „permanenten Volatilität mit vielfachen Überraschungen“, 37,4 Prozent schließen sich der Aussage an, die kommenden Jahre würden weitere Brüche hervorbringen, mit relativen Gewinnern und Verlierern. Nur 10,7 Prozent setzen als unverbesserliche Optimisten auf einen sich beschleunigenden Wirtschaftsaufschwung und 10,1 Prozent erweisen sich als pessimistische Apokalyptiker, die daran glauben, dass in den kommenden drei Jahren rote Linien überschritten werden, die zunehmend katastrophale Auswirkungen ans Licht bringen.

Saadia Zahidi, Direktorin des World Economic Forum, wies bei der Vorstellung des Berichtes auf die größten Baustellen hin. Der Report zeige, so die Direktorin, dass die Covid-19-Pandemie wie ein Brandbeschleuniger die meisten Entwicklungen noch stärker angeschoben hat als bisher: So habe die Erosion des sozialen Zusammenhalts weiter zugenommen, die soziale Ungleichheit ebenfalls.

Neben dem Bröckeln des sozialen Zusammenhaltes und der Tatsache, dass immer mehr Menschen in Existenzkrisen fallen, verdeutlicht der Risikoreport, dass die Maßnahmen gegen den Klimawandel nicht schnell genug vorankommen. Weiter werden von den Wirtschaftskapitänen bei den 10 größten Gefahren extreme Wetterereignisse, Verlust der Artenvielfalt, Infektionskrankheiten, Umweltzerstörung, Ressourcenknappheit, Schuldenkrise und geowirtschaftliche Konfrontationen genannt.

Die symbolische Uhr zeigt 100 Sekunden vor Mitternacht.

Eine weitere Warnung wurde vor wenigen Stunden zum 75. Mal mit dem Einstellen der „Doomsday-Clock“ verkündet. Einige Wissenschaftler, unter ihnen Albert Einstein, die im Rahmen des sogenannten Manhattan-Projekt die Atombombe entwickelten, waren von der Macht die sie entfesselt hatten, beeindruckt, entsetzt und verängstigt. Sie schufen im Jahr 1947 ein Symbol, um die Welt vor einer nuklearen Konfrontation zu warnen. So entstand die sogenannte „Weltuntergangsuhr“ das ikonische Motiv der renommierten Fachzeitschrift „Bulletin of the Atomic Scientists“. Kurz nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki wollten die Wissenschaftler verdeutlichen, wie real die Gefahr durch diese neue Waffentechnik der Atombomben sei und dass es von höchster Bedeutung und Dringlichkeit wäre, diese durch Verhandlungen in den Griff zu bekommen. Die Uhr stand damals auf 7 Minuten vor Mitternacht.

Seit all den Jahren stellen nun die Wissenschaftler, diese symbolische Uhr ein, um der Menschheit mit einer Metapher zu verdeutlichen, desto näher die Zeit bis Mitternacht rückt, desto näher ist die Welt an einer Katastrophe. Beim Einstellen der Uhr wurden mit den Jahren neben den Atomwaffen, auch der Klimawandel, die Gefahr des Ausbruchs von Kriegen, die künstliche Intelligenz, die digitalen Falschinformationen (Fake-News) und die Fortschritte in der Biotechnologie mitberücksichtigt. Hinzu kommen aktuell die verheerenden Auswirkungen der weltweiten Covid-Pandemie.

Auch dieses Jahr blieb die Weltuntergangsuhr auf der gleichen Position wie im Jahr 2020, nämlich 100 Sekunden vor Mitternacht und damit das dritte Jahr in Folge so nah an Mitternacht wie nie zuvor. Diese Stetigkeit ist laut dem „Bulletin of the Atomic Scientists“ keine gute Nachricht. „Wir befinden uns in einem gefährlichen Moment, der weder Stabilität noch Sicherheit bringt“, so die Botschaft der Wissenschaftler.

Bei der diesjährigen Einstellung erklärten die Verantwortlichen, dass für dieses Jahr die anhaltende Pandemie, die aufkeimende biologische Bedrohung der Zivilisation, die Modernisierung und Verbreitung von Atomwaffen, die anhaltende Klimakrise, die staatlich geförderten Desinformationskampagnen, die disruptiven Technologien, besonders Bio- und Cybersicherheit, die wachsenden Spannungen zwischen den USA und ihrer Verbündeten, mit China, Russland, Iran, Nordkorea sowie die Zerfaserung demokratischer Verhältnisse, wichtige Schwerpunkte bei der Festlegung der 100 Sekunden vor Mitternacht waren.

„Unsere Entscheidung, die Weltuntergangsuhr auf 100 Sekunden vor Mitternacht zu stellen, ist eine klare Warnung an die Welt: Wir müssen uns von der Türschwelle des Untergangs entfernen“ so die Verantwortlichen der Doomsday Clock bei der diesjährigen Vorstellung. „Wenn nicht schnell und gezielt gehandelt wird, sind wirklich katastrophale Ereignisse wahrscheinlicher, Ereignisse, die die Zivilisation, wie wir sie kennen, beenden könnten. Wenn die Uhr auf 100 Sekunden vor Mitternacht steht, sind wir alle bedroht. Die Zeit zum Handeln ist jetzt“ so der eindringliche Appell.

Auch wenn so mancher aufgrund der sich häufenden negativen Nachrichten nicht mehr hinhören will, der Risikobericht und die Doomsday Clock haben ihren Sinn. Sie erinnern uns einmal im Jahr an die größten Gefahren der Menschheit. Um es mit Gramsci auszudrücken, dies wäre der Pessimismus des Verstandes. Diese Gefahren sind alle menschengemacht und dies bedeutet, sie können auch von Menschen wieder rückgängig gemacht werden. Noch ist es nicht zu spät, aber es erfordert besonders in diesem Jahrzehnt, schnelle und konsequente Entscheidungen. So wären wir laut dem italienischen Philosophen beim Optimismus des Willens. Für diesen Optimismus für diesen Mut zum Handeln sind die Politik und die Zivilgesellschaft gefordert. Diese Verantwortung tragen wir alle gegenüber den zukünftigen Generationen.

Raymond Becker
Koordinationsteam der Friddens- a Solidaritéitsplattform Lëtzebuerg