Ein Lichtblick und eine herbe Enttäuschung.

Wir appellieren als Menschen an Menschen: Erinnert euch an eure Menschlichkeit und vergesst den Rest.

Auszug aus dem Russel-Einstein-Manifest

Zwei der berühmtesten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der Philosoph Bertrand Russell und der Physiker Albert Einstein, veröffentlichten am 9. Juli 1955 in London das so genannte „Russel-Einstein-Manifest“, um die Welt vor den schrecklichen Folgen eines Atomkriegs zu warnen. Sie riefen zu einer friedlichen Lösung internationaler Konflikte auf, um den „universellen Tod“ zu vermeiden.

Ein Zitat aus diesem Manifest hat auch 67 Jahre nach seiner Veröffentlichung noch seine aktuelle Gültigkeit: „Wir appellieren als Menschen an Menschen: Erinnert euch an eure Menschlichkeit und vergesst den Rest.“

Seit mehr als 75 Jahren lebt die Menschheit im Schatten der Atombombe. Wir scheinen uns an diese Gefahr gewöhnt zu haben. Das sollten wir nicht. Atomwaffen sind die schrecklichsten Waffen, die je erfunden wurden. Es gibt keine Waffen die mehr Zerstörung anrichten.

Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI rechnet vor, dass heute im Besitz der 9 Nuklearmächte (Russland, USA, China, Großbritannien, Frankreich, Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea) sich schätzungsweise 12.705 nukleare Sprengköpfe befinden. Rund 90 Prozent aller Atomwaffen sich in den Beständen Russlands und der USA. Beide Länder forcieren laut Recherchen von SIPRI kostspielige Programme, um die Atomsprengköpfe, ihre Trägersysteme und die Produktionsstätten zu modernisieren. Gleiches gilt für die weiteren Atomwaffenstaaten. Sie haben allesamt neue Waffensysteme entwickelt oder stationiert, zumindest haben sie dies angekündigt.

Trotz einer leichten Verringerung dieser abscheulichen Waffen im Vergleich zu 2020, rechnen die Friedensforscher damit, dass diese Zahl in den kommenden Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit anwachsen wird.

2022 kann man getrost als das Jahr der Atomwaffenkonferenzen bezeichnen. Ende Juni fand in Wien die erste Nachfolgekonferenz der Vertragsstaaten des Atomwaffenverbotsvertrages (AVV) statt. Dieser Vertrag ist seit 2021 in Kraft und gilt als bedeutendes Instrument des humanitären Völkerrechts. Er verbietet den Einsatz, die Androhung des Einsatzes, die Entwicklung, Herstellung und Lagerung sowie das Testen dieser Waffen.

Vor wenigen Stunden endete in New-York die 10. Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (NVV). Dieser Vertrag ist seit 1970 in Kraft. Gegenstand dieses NVV ist das Verbot der Verbreitung und die Verpflichtung zur Abrüstung von Kernwaffen sowie das Recht auf die „friedliche Nutzung“ der Kernenergie.

Wir leben in einer Zeit der nuklearen Gefahr.

Angesichts zahlreicher Krisen weltweit hat UN-Generalsekretär António Guterres vor der zunehmenden Gefahr der nuklearen Vernichtung gewarnt. Die Welt befinde sich in einer „Zeit der nuklearen Gefahr, die es seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat“, warnte er vor wenigen Tagen. „Die Menschheit läuft Gefahr, die Lehren aus den schrecklichen Feuern von Hiroshima und Nagasaki zu vergessen.“ Die Welt ist nur ein einziges Missverständnis oder eine Fehlkalkulation von der nuklearen Vernichtung entfernt, argumentiert Guterres.

Nur 2 dieser 12.705 Atombomben haben 1945 in Hiroshima und Nagasaki 350.000 Menschen direkt oder durch Folgeschäden getötet. Die immer wieder zirkulierende Mär, dass durch diesen Atombombeneinsatz der Krieg verkürzt wurde, ist längst widerlegt. Es ging einzig und allein darum der Sowjetunion im Jahre 1945 zu verdeutlichen wer weltweit die Vormachtstellung hat.

Es ist schon erschreckend, wie salopp heutzutage vielerorts wieder über den Einsatz von Atomwaffen fabuliert wird. Völlig irrsinnig die aktuellen Praxistipps wie man sich bei einem Atombombeneinschlag verhalten soll. All diesen „Strategen“ und „Tippgebern“ sei geraten sich mal mit den Hibakushas, den Überlebenden dieser Atombombenabwürfe vor 77 Jahren zu unterhalten. Welch ein Gräuel, welch unsägliches Leid diese Menschen erlebt haben ist kaum in Worte zu fassen. Alternativ wäre ein Gespräch mit Peter Maurer, dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz sehr empfehlenswert. Atomwaffen sind eine inakzeptable Bedrohung für die Menschheit. Bei einem Einsatz dieser Waffen ist eine adäquate humanitäre Hilfe unmöglich. Die internationale Gemeinschaft hat keine Chance die Folgen eines Atomkrieges zu bewältigen, kein Land ist auf eine atomare Konfrontation vorbereitet.

Ein Lichtblick in Wien.

Die Staatenkonferenz des Vertrags zum Verbot von Atomwaffen (AVV) in Wien verdeutlichte mit ihrem Engagement, dass sie die Renaissance des nuklearen Wettrüstens ablehnt. Die Mitgliedsstaaten beschlossen die „Vienna Declaration“ und den „Vienna Action Plan“. Die politische Erklärung der ersten Staatenkonferenz des AVV, die Vienna Declaration, ist die schärfste multilaterale Verurteilung nuklearer Drohungen bislang. Verurteilt wurden „alle nuklearen Drohungen, ob sie nun explizit oder implizit und ungeachtet der Umstände sind“. Die Vertragsstaaten beschlossen, die Umsetzung aller Aspekte des Vertrags voranzutreiben, einschließlich der positiven Verpflichtungen, die darauf abzielen, den durch den Einsatz und die Tests von Kernwaffen verursachten Schaden zu beheben. Sie bekräftigten ferner die Komplementarität des Vertrags mit den internationalen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregelungen, einschließlich des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), und verpflichteten sich, den NVV und alle Maßnahmen, die wirksam zur nuklearen Abrüstung beitragen können, weiterhin zu unterstützen.

Bewegend die Worte des Überlebenden von Nagasaki, Masao Tomonaga: „Diese politische Erklärung ist ein sehr starkes Dokument, trotz der vielen Schwierigkeiten, denen wir gegenüberstehen. Mit diesem starken Dokument können wir vorwärts gehen, und alle Hibakusha unterstützen dies. Es ist ein großartiges Dokument, um meine Stadt Nagasaki zur letzten Stadt zu machen, die jemals unter einem Atombombenangriff gelitten hat“.
Das Ergebnis der ersten Staatenkonferenz ist ein großer Erfolg für die Mitgliedstaaten und ein Lichtblick für die Zivilgesellschaft. Eine weitere Staatenkonferenz des AVV ist für Ende 2023 eingeplant.

Eine herbe Enttäuschung in New-York.

Vor wenigen Stunden scheiterte die 10. Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags (NVV). Obwohl der endgültige Entwurf des Abschlussdokuments im Laufe der Verhandlungen schon erheblich abgeschwächt wurde, weigerte sich Russland, die endgültige Fassung zu akzeptieren. Die Konferenz endete ohne eine Einigung.
In einem Jahr, in dem ein nuklear bewaffneter Staat in einen nicht nuklear bewaffneten Staat einmarschiert ist, hat ein Treffen fast aller Länder der Welt keine Maßnahmen zur nuklearen Abrüstung ergriffen.
Russland ist allein dafür verantwortlich, den Konsens blockiert zu haben. Die Erklärung scheiterte an mehreren russischen Einwänden im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und dem Konflikt um das Kernkraftwerk Saporiyia.

Der Friedensnobelpreisträger „International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN)“ bringt es in aller Deutlichkeit auf den Punkt: Aufgrund einer inakzeptablen, gefährlichen globalen Situation hat die Überprüfungskonferenz nichts erreicht. Keinen glaubwürdigen Plan zur Förderung der Abrüstung zu verabschieden, den Opfern von Nukleareinsatz und -tests zu helfen und alle nuklearen Bedrohungen zu verurteilen.

Das vorgeschlagene Konsensdokument wurde schon im Vorfeld durch eine gemeinsame Anstrengung der nuklear bewaffneten Staaten und ihren Verbündeten von jeglichen sinnvollen Verpflichtungen befreit. Kein Wort darüber atomare Androhungen zu verurteilen, kein Wort über ein Moratorium für spaltbare Materialien, die zur Modernisierung und dem Ausbau der Nuklearwaffen benötigt werden. Kein Wort über Benchmarks, Zeitpläne oder konkrete Verpflichtungen zur nuklearen Abrüstung. Das Dokument sah eine Verwässerung von Maßnahmen zur Risikominderung, Transparenz und Rechenschaftspflicht vor, weil die Atomwaffenstaaten eigentlich kein Interesse daran haben, zur Rechenschaft gezogen zu werden oder das Risiko zu reduzieren. Kein Wort über die Reduzierung der Rolle der Atomwaffen in den jeweiligen Sicherheitsdoktrinen. Nichts rein gar nichts hiervon stand in dem seitens von Russland blockierten Konsensdokument.

Eine herbe Enttäuschung für alle die sich für eine atomwaffenfreie Welt einsetzen. Guterres bleibt auch nach der enttäuschenden Konferenz bei seinen mahnenden Worten: „Das angespannte internationale Umfeld und das erhöhte Risiko, dass Atomwaffen durch einen Unfall oder eine Fehlkalkulation eingesetzt werden, erfordern dringende und entschlossene Maßnahmen (…) Das nukleare Risiko muss ein für alle Mal beseitigt werden.“

Für die Zivilgesellschaft gilt es den Lichtblick der Konferenz von Wien aufzunehmen und zu verdeutlichen, dass der Beitritt aller Länder zum Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) für das Erreichen einer atomwaffenfreien Welt wichtiger denn je ist. Noch ist nicht aller Tage Abend.

In seinem Leitartikel für die französische Zeitung „Combat“ vom 8. August 1945 über den Atombombenabwurf auf Hiroshima schließt der französische Philosoph, Schriftsteller und militanter Journalist Albert Camus, mit folgenden Zeilen: „Angesichts der erschreckenden Aussichten, die sich für die Menschheit auftun, erkennen wir immer deutlicher, dass der Frieden der einzige Kampf ist, den es zu führen lohnt. Er ist kein Gebet mehr, sondern ein Befehl, der von den Menschen zu den Regierungen aufsteigen muss, der Befehl, sich endgültig zwischen Hölle und Vernunft zu entscheiden.“
Dem wäre bis heute nichts hinzuzufügen.

Raymond Becker
Mitglied des Koordinationsteams der „Friddensplattform“