„Warum brauchen sie die überhaupt?“
Nelson Mandela brachte es in seiner Abschiedsrede als südafrikanischer Präsident im Jahre 1998 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen auf den Punkt: „Wir müssen uns die Frage stellen, die für diejenigen naiv klingen mag, die ausgeklügelten Argumente entwickelt haben, um ihre Weigerung zu rechtfertigen, Atombomben, diese schrecklichen und furchterregenden Massenvernichtungswaffen zu beseitigen. Warum brauchen sie die überhaupt? In Wirklichkeit gibt es keine rationale Antwort, die erklären könnte, was die Folge der Trägheit des Kalten Krieges und des Festhaltens an der Drohung mit roher Gewalt ist.“
Die von Mandela gestellte Frage ist heute noch von brisanter Aktualität.
Die Welt steht heute näher an einer nuklearen Katastrophe als jemals zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Im Januar verkündete das Bulletin of Atomic Scientists, dass sich die Zeiger der Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht stehen, so nah wie nie zuvor in der 76-jährigen Geschichte der Uhr. Wir sind heute einer größeren existenziellen Bedrohung durch einen Atomkonflikt ausgesetzt als jemals zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Dies angesichts der Aushöhlung des Tabus gegen den Einsatz von Atomwaffen, des nahezu vollständigen Zusammenbruchs der verbleibenden nuklearen Rüstungskontrollarchitektur zwischen Russland und den Vereinigten Staaten und des Aufkommens potenziell destabilisierender neuer Technologien wie Cyberangriffe und allgemein künstlicher Intelligenz (KI).
Es muss klar verdeutlicht werden: Das Risiko eines Atomkriegs war selten so hoch wie heute. Russlands nukleare Drohungen in der Ukraine, Chinas boomendes Arsenal und die besorgniserregende Modernisierung von Massenvernichtungswaffen bei allen 9 Mächten (Russland, USA, China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea), welche diese Waffen besitzen.
Zudem haben die wichtigsten Industrienationen der westlichen Welt, die G7-Staaten, vor wenigen Wochen in Hiroshima eine viel kritisierte Erklärung veröffentlicht, die den Besitz von Atomwaffen zur Abschreckung befürwortet.
Solange es Atomwaffen gibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie irgendwann eingesetzt werden – wenn nicht absichtlich, dann durch menschliches Versagen, Fehlkalkulation oder Fehleinschätzung. Die Folgen wären katastrophal. 78 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki ist die atomare Atmosphäre explosiv.
Daniel Ellsberg wurde als Whistleblower der „Pentagon Papers“ in den Siebzigerjahren bekannt. Die Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs hielt der im Juni verstorbene Ellsberg zeit seines Lebens für hochaktuell. In einem seiner letzten Interviews resümierte der Friedensaktivist seine Überlegungen zu Atomwaffen: „Was in der typischen Diskussion und Analyse historischer oder aktueller Atompolitik fehlt, ist die Erkenntnis, dass das, was diskutiert wird, schwindelerregend irrsinnig und unmoralisch ist: in seiner fast unkalkulierbaren und unvorstellbaren Zerstörungswut und vorsätzlichen Mordlust, (…) in seiner Kriminalität in einem Ausmaß, das gewöhnliche Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit und Verbrechen sprengt, in seinem Mangel an Weisheit oder Mitgefühl, in seiner Sündhaftigkeit und Schlechtigkeit. „
12.512 nukleare Sprengköpfe waren Anfang dieses Jahres auf 9 Länder weltweit verteilt. Allein Russland und die USA sind im Besitz von über 90% dieser abscheulichen Waffen. 157.664 Dollar pro Minute für Atomwaffen, so viel gaben die atomar bewaffneten Staaten im Jahr 2022 aus. Insgesamt 82,9 Milliarden Dollar für Atomwaffen, die niemanden sicherer gemacht haben. Milliarden die dringend benötigt würden, um beispielsweise die Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung zu verwirklichen.
Friedensbewegungen weltweit fordern alle Staaten dazu auf, dem Atomwaffen-Verbotsvertrag der Vereinten Nationen beizutreten. Dies bleibt eine wichtige und richtige Forderung. Auch Luxemburg muss sich zu diesem Vertrag bekennen. Es bleibt falsch zu behaupten, dieser Vertrag stünde im Gegensatz zu anderen Verträgen, wie beispielsweise dem Nichtverbreitungsvertrag von Atomwaffen. Es wurde juristisch und wissenschaftlich hieb- und stichfest nachgewiesen, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Der Verbotsvertrag ist ein wichtiger Schritt zur Bewältigung aktueller Herausforderungen.
Der Jahrhundertpolitiker Michael Gorbatschow plädierte vehement für nukleare Abrüstungsgespräche. Für ihn würden dies zwar langwierige und komplizierte Verhandlungen werden, aber die Menschheit komme an diesen Verhandlungen nicht vorbei. Ein konkreter Verhandlungsweg, hin zur Abschaffung aller Atomwaffen müsse schnellstmöglich beschritten werden.
Atomare Abrüstungsverhandlungen können nur mit einer Diplomatie der konsequenten Schritte angegangen werden. Vertrauen wieder aufbauen ist ein wichtiger Schritt. Für viele heute undenkbar, aber unerlässlich.
Die Friedensbewegung muss sich stärker um diese Diplomatie der konsequenten Schritte kümmern. Der deutsche Philosoph der Aufklärung Gotthold Ephraim Lessing formulierte: “ Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht immer noch geschwinder als der, der ziellos umherirrt.“
Im Jahre 2007 gründete Nelson Mandela eine unabhängige Gruppe international anerkannter Politiker „The Elders“. Bis heute tätigen diese „The Elders“ Überlegungen zu den Themen Frieden, Gerechtigkeit, Menschenrechte und Nachhaltigkeit auf unserem Planeten.
Im Rahmen des rezenten „Oppenheimer“-Films veröffentliche die Gruppe ein aktualisiertes Positionspapier zu Atomwaffen. Interessant an dieser Stellungnahme ist, dass eine Diplomatie der konsequenten Schritte hin zur endgültigen Abrüstung aufgezeichnet wird.
Gefordert wird von den Atommächten einen ernsthaften Dialog über die Verringerung nuklearer Risiken aufzunehmen und sich zu einer Agenda zur Minimierung nuklearer Risiken zu verpflichten.
Die 4 D’s sind für „The Elders“ bei der anzustrebenden Agenda wichtig:
DOCTRINE: Jeder nuklear bewaffnete Staat sollte eine unmissverständliche „No First Use“-Erklärung abgeben.
DE-ALERTING: Höchste Priorität muss es haben, so viele Waffen wie möglich aus ihrem derzeitigen Hochalarmstatus zu nehmen.
DEPLOYMENT: Mehr als ein Viertel des weltweiten Atomwaffenbestands ist derzeit einsatzbereit. Dieser Anteil muss drastisch und dringend reduziert werden.
DECREASED NUMBERS: Die Zahl der nuklearen Sprengköpfe sollte von abgerundet 12.500 auf das niedrigste mögliche Niveau reduziert werden, wobei die USA und Russland jeweils nicht mehr als 500 Sprengköpfe besitzen sollten, was als Obergrenze für jeden Nuklearstaat dienen müsste.
Der Film „Oppenheimer“ erzählt uns, wie Atomwaffen entstanden sind, aber wir entscheiden, wie sie enden werden.
Raymond Becker
Koordinationsteam der Friddens- a Solidaritéitsplattform